Hilde Domin, „Ziehende Landschaft“

Auswertung des Titels

Hilde Domin

Ziehende Landschaft 

  • Der Titel könnte bedeuten, dass eine Landschaft vorbeizieht.
  • Oder aber sie zieht an.

Abschnitt 1

  • Das Gedicht beginnt mit der Feststellung, die aus einer Erfahrung eine Forderung ableitet. Es geht um die Fähigkeit, weggehen zu können und zugleich „wie ein Baum“ zu sein.
  • Die scheinbare Unvereinbarkeit der beiden Situationen oder Verhaltensweisen wird dann in der dritten Zeile im Konjunktiv des Vergleichs geklärt: Es geht darum, dass die „Wurzel im Boden“ bleibt, obwohl man wegzieht.
  • Damit ist wohl nicht das gemeint, was man wörtlich darunter verstehen könnte, nämlich dass die Wurzel allein zurückgelassen wird.
  • Vielmehr ist es in dem bekannten übertragenen Sinne gemeint, dass die Wurzeln lebendig bleiben, sie also auf irgendeine Weise mitnimmt, so dass sie nicht in Vergessenheit geraten, sondern weiter fruchtbar bleiben.
  • Dann in der letzten Zeile der ersten Strophe wird dies Problem auf eine Weise poetisch, also in der Fantasie, gelöst, die auch den Titel erklärt. Das lyrische Ich möchte den Menschenbaum fest im Boden verankert sehen – und die Landschaften ziehen wie in einem Film vorbei.
  • In der Praxis ist das natürlich schwer vorstellbar, aber als ein Bild für die Frage, was Priorität hat im Leben, ist es ein wunderbarer poetischer Einfall.
  • Anregung: Es lohnt sich sicherlich zum Aufbau eines besseren Verständnis des Gedichtes hier mal darüber nachzudenken, für welche Situation ein solches Sowohl- als-auch denkbar ist und ob das Bild wirklich mit der Wirklichkeit was zu tun haben kann.
  • Zum Beispiel könnte jemand sich immer aufgrund seiner Kindheit einer ganz bestimmten Landschaft oder einem sonstigen Ort verbunden fühlen, obwohl er aus welchen Gründen auch immer den größten Teil seines Lebens an einem ganz anderen Platz in der Welt verbracht hat.
    • Das kann zu einem regelmäßigen Pendeln werden,
    • es kann aber auch sein, dass man sich in der Fremde ein kleines Zuhause nach baut, in dem man sich immer wieder zumindest kurzzeitig mit viel Fantasie in die Welt der Kindheit und ihre Kultur  zurück versetzen kann.
    • Es bleibt aber die Frage, ob ein solcher Nachbau – ganz gleich, in welcher Form – die Originalstätten und ihre Atmosphäre wirklich ersetzen kann.
    • Dann gibt es die Frage, ob man sich wirklich vorstellen, dass die fremden, neuen, anderen Landschaften an diesem Wurzelkern vorbeiziehen.
    • Aber vielleicht darf man das Bild auch nicht überstrapazieren und begnügt sich mit der Vorstellung, dass man selbst eben „fest“ bleibt und alles andere dann mehr oder weniger Kulisse ist.

Abschnitt 2

  • Der zweite Teil des Gedichtes besteht dann aus einem einzigen Satzgefüge.
  • Es beginnt mit einer Forderung, den Atem anzuhalten.
  • Im weiteren Verlauf wird dieser überraschende Ratschlag dann in der Weise ausgeführt, dass auf diese Art und Weise sich „die alten Muster“ zeigen können und man dann auch „zu Hause“ ist.
  • Ziel dieses Vorgangs oder dieser Übung ist es, sich innerlich in eine Situation zu versetzen, als könne man sich an etwas anlehnen und zwar ans Grab der Mutter.
  • Das hört sich auf den ersten Blick befremdlich an, da man doch jedem wünscht, dass er seine Mutter noch hat.
  • Aber gemeint ist wohl, dass man in der Fremde eben nur auf eine ganz besondere Art und Weise die Beziehung zu seiner Heimat aufrecht erhalten kann. Sie muss in gewisser Weise versterben, wie es auch mit der eigenen Mutter ist. Und dennoch kann das Vergangene eine ganz große Bedeutung haben und auch die Gegenwart bestimmen.
  • Und zwar im Sinne des Anlehnens, was ja bedeutet, dass man eine größere Standfestigkeit bekommt, gerade wenn es damit vielleicht nicht zum besten bestellt ist –
  • so wie man sich in der Kindheit zu Mutter geflüchtet hat, wenn man ein Problem hatte.
  • Und später – und das will das Gedicht wohl ausdrücken – kann man in ähnlicher oder sogar vergleichbarer Weise sogar noch von der Vergangenheit zehren.
  • Anregung
    Vielleicht ist es eine gute Idee, wenn Schüler mal einfach Menschen in ihrer Umgebung, die ihre Mutter nicht mehr haben, fragen, wiesehr sie glauben, sich noch an sie „anlehnen“ zu können.
  • Natürlich kann man auch darüber nachdenken, wieso hier nur von der Mutter die Rede ist und ob nicht auch der Vater oder ein anderes Familienmitglied infragekommt für diese Rolle.

Wer noch mehr möchte …