Vergleich der Gedichte von Goethe „Meeresstille“ u. „Glückliche Fahrt“ (Mat1699)

Das Schöne an den beiden Gedichten ist, dass sie aus dem selben Jahr stammen, wohl auch an gleicher Stelle veröffentlicht worden sind und sehr unterschiedliche Situationen beschreiben – im gleichen Problemzusammenhang.

Gedicht Nr. 1: „Meeresstille“ – als Problem für jemanden, der weg will oder muss

  • Meeresstille
    Der Titel des Gedichtes enthält auf eine doppelte Weise eine erste Leserlenkung. Man weiß zum einen, dass es um das Meer geht, zum anderen, dass es sich in einem speziellen Zustand befindet, den man heute wohl in der Regel eher als positiv empfindet, es sei denn man ist Surfer.
    Genau diese Frage bleibt offen, wie dieser Zustand zu bewerten ist.
  • Tiefe Stille herrscht im Wasser,
    Ohne Regung ruht das Meer,
    Die ersten beiden Zeilen schaffen hier noch nicht mehr Klarheit.
    Sie präsentieren auf zweifache Art und Weise eine Situationsbeschreibung.
  • Und bekümmert sieht der Schiffer
    Glatte Fläche ringsumher.
    Keine Luft von keiner Seite!
    Genau diese Klarheit wird in den nächsten Zeilen geschaffen, indem zunächst einmal eine Person präsentiert wird, die mit dem Meer direkt etwas zu tun hat. Und dieser Schiffer wiederholt zunächst einmal noch das, was man vorher schon erfahren hat, kommentiert das dann aber auf drastische Art und Weise als „fürchterlich“ und auch „keine Luft“ geht in diese Richtung. Es ist natürlich eine unglaublicher Übertreibung, denn Luft genug gibt es natürlich, aber hier ist eben eine Luft gemeint, die den eigenen Aktivitäten förderlich ist.
  • Todesstille fürchterlich!
    In der ungeheuern Weite
    Reget keine Welle sich.
  • Die nächsten Zeilen verschieben die Stimmung dann ins Katastrophale. Was die Zeit Goethes angeht, kann man aber wohl davon ausgehen, dass es sich hier um einen Berufsschiffer handelt, der Waren transportieren muss und jetzt eben einfach mit seinem Schiff nicht ablegen kann und dabei möglicherweise großen Schaden erleidet.
  • Zur Form des Gedichtes: Vierhebiger Trochäus, Kreuzreim, der in der 3. Zeile fehlt, was der Bekümmernis des Schiffers entsprechen kann.
  • Das Gedicht wirkt auf eine seltsame Art und Weise unvollständig, kann deshalb auch gut kreativ fortgesetzt werden.
  • Allerdings muss man aufpassen, dass man die Ausgangssituation nicht verändert, der Surfer kommt also jetzt nicht in Frage.
  • Dann wird es aber schwierig mit der kreativen Fortsetzung, denn wer braucht heute noch Wind, wenn er mit einem Schiff rausfahren will,. Man könnte natürlich von einem Yachty ausgehen, der segeln möchte, vielleicht auch nur eine Woche Urlaub hat und schon zwei Tage ebenfalls keinen vernünftigen Wind hatte.

Gedicht Nr. 2: „Glückliche Fahrt“

Glückliche Fahrt

  • Der Titel setzt schon einmal zwei Akzente, es geht um eine Fahrt, also ein Unterwegssein, eine Reise, die immer auch mit bestimmten Problemen oder Gefahren verbunden sein kann.
  • Und das wird in diesem Falle eindeutig mit dem positiven Attribut „glücklich“ verbunden, wobei das im Einzelnen nicht gefüllt ist.
  • Die Nebel zerreißen,
    Der Himmel ist helle,
    Und Äolus löset
    Das ängstliche Band.
    Es säuseln die Winde,
  • Die ersten fünf Zeilen des Gedichtes beschreiben eine Veränderung, die wohl mit dem Attribut „glücklich“ in der Überschrift zusammenhängen.
  • Es geht dabei um zwei Aspekte, zum einen das Verschwinden des Nebels als gefährliches Hindernis für eine Schifffahrt, die noch kein Radar und kein GPS kannte.
  • Zum anderen geht es um das Aufkommen von Wind, mindestens genauso wichtig für den Beginn einer Reise mit Segelschiffen zur Zeit Goethes.
  • Es rührt sich der Schiffer.
  • Erstaunlich, dass dann die Reaktion der Schiffsbesatzung nur in einet einzelnen Zeile beschrieben wird und das auch in recht zurückhaltender Form.
  • Denn ein „sich rühren“ ist wohl nicht das, was man erwartet, wenn man jetzt schnell die günstige Situation nutzen will.
  • Geschwinde! Geschwinde!
  • Dementsprechend scheint sich in der nächsten Zeile auch das lyrische Ich als Beobachter der Situation massiv einzumischen und Eile anzumahnen.
  • Es teilt sich die Welle,
    Es naht sich die Ferne;
  • Die nächsten zwei Zeilen beschreiben dann, wie dieser Appell offensichtlich umgesetzt wird, denn zum einen bewegt sich das Schiff jetzt sehr schnell und zum anderen kommt eben auch „die Ferne“immer näher.
  • Schon seh‘ ich das Land!
  • Die letzte Zeile macht dann deutlich, dass sich das lyrische Ich mit dem Schiffer entweder gleichsetzt oder aber, was wohl wahrscheinlicher ist, die Rolle eines zufriedenen Passagiers einnimmt.
  • Zur Form des Gedichtes: Daktylisch, sehr weitläufige Reimverhältnisse:
    a: Die Nebel zerreißen,
    b: Der Himmel ist helle,
    c: Und Äolus löset
    d: Das ängstliche Band.
    e: Es säuseln die Winde,
    f: Es rührt sich der Schiffer.
    e: Geschwinde! Geschwinde!
    b: Es teilt sich die Welle,
    g: Es naht sich die Ferne;
    d: Schon seh‘ ich das Land!
    Man könnte das so interpretieren, dass die Fahrt, die schließlich beginnt und gut verläuft, zu mehr Harmonie führt – in der Wirklichkeit und in der Reimstruktur.
  • Insgesamt ein Gedicht, das aus der Sicht der Segelschifffahrt um 1800 die Situation beschreibt, in der die Umstände endlich so sind, dass man aufbrechen kann, was dann auch schnell zum Erfolg führt.
  • Auch dieses Gedicht kann man schön aktualisieren und kreativ aufgreifen, indem zum Beispiel ein Tennisspieler beschreibt, wie die Platzverhältnisse endlich wieder so sind, dass gespielt werden kann.
  • Wem das zu speziell ist, der kann sich einfach eine Situation vorstellen, in der staatliche Beschränkungen im Rahmen der Bekämpfung der Corona-Pandemie endlich aufgehoben werden können. Der eine wird sich dabei vielleich auf die Aufhebung der Maskenpflicht konzentrieren, der andere auf einen Antrag auf die Öffnung von Bars oder den wieder möglichen Besuch im großen Fußballstadion.
  • Wenn all diese Probleme der Vergangenheit angehören sollten, kann man sich natürlich auch über ein endlich verkündetes Hitzefrei an seiner Schule freuen und das aus verschiedenen Perspektiven im Gedicht thematisieren.

Vergleich

  1. Beide Gedichte haben mit der Seerfahrt zu tun
  2. und sind nur richtig verständlich, wenn man den Wind als Antriebskraft voraussetzt, also vom Segeln ausgeht.
  3. Das erste Gedicht macht den Kummer eines Schiffers deutlich, der wahrscheinlich nicht nur ausfahren will, sondern auch muss.
  4. Besonders die Verbindung mit dem Bereich Tod und Atemnot sowie das Adjektiv „fürchterlich“ machen deutlich, dass es hier um die Existenz geht.
  5. Der Schluss wirkt wie der Ausdruck von Verzweiflung.
  6. Das zweite Gedicht beschreibt ohne direkten Zusammenhang mit dem ersten den Moment, in dem das Warten zu Ende ist.
  7. Interessant, dass hier sogar der Gott der Winde nötig ist, um das „ängstliche Band“ zu lösen. Gemeint ist damit wohl der Zustand der Sorge, dass man zu früh rausfahren und in Gefahr geraten könnte.
  8. Der zweite Akzent neben diesem positiven Umschwung der Stimmung ist die Sorge des Lyrischen Ichs, das wohl als Passagier alles betrachtet, dass jetzt nicht schnell genug gehandelt wird.
  9. Am Ende steht das Glück der Umstände und des richtigen Umgangs damit, wenn nicht nur mit Freude auf den Bug des Schiffes geblickt wird, der die Wellen teilt, sondern eben auch das Ziel in den Blick kommt. Fast möchte man es so formulieren, „dass endlich Land in Sicht ist“.
  10. Insgesamt wirkt das erste Gedicht tiefschürfender, existenzieller, während das zweite eher Erleichterung ausstrahlt.

 Wer noch mehr möchte …