Anders Tivag, Parabel zum kategorischen Imperativ

Zu dieser Geschichte gibt es auch eine Hörfassung:

Anders Tivag

Parabel zum kategorischen Imperativ

Als Prof. S wieder mal nicht nur zu spät zu seiner Vorlesung kam, sondern auch seinen Sportwagen direkt vor dem Garagentor des Hausmeisters parkte, nutzten seine Studis die Gelegenheit, ihn nach seiner Haltung zum kategorischen Imperativ von Herrn Kant fragten.

Professor S freute sich über den spontanen Einwurf, verlangte aber, dass ihm einer den Originalwortlaut vorlese, denn nur auf einer solchen Basis lasse sich angemessen etwas dazu sagen. Schon nach kurzer Recherche auf ihrem Laptop präsentierte eine Studentin die folgende Fassung:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Mit Rücksicht auf einige Mitstudis, die mit der Formulierung anscheinend nicht sofort klar kamen, übersetzte die junge Frau das auch gleich in eine heutige Sprache und meinte: „Kant möchte, dass in einer moralisch gut aufgestellten Gesellschaft jeder so handeln soll, dass sie keinen Schaden nimmt, wenn alle anderen auch so handeln.“

Professor S überlegte kurz und erzählte dann, wie es seine Studenten schon erwarteten, die folgende Geschichte:

„Ein Mann, nennen wir ihn Florian Tugendhaft, der nicht nur die wichtigsten Werke der Ethik kannte, sondern auch nach ihnen zu handeln gedachte, hatte das Glück, sie an einem Tag auf fast schon ideale Weise erproben zu können.

Er hatte den ganzen Tag gearbeitet, war müde und hungrig und wollte sich jetzt in einem Geschäft noch etwas zu essen kaufen. Leider hatte sich aus unerfindlichen Gründen vor der Eingangstür eine lange Schlange gebildet, an deren Ende er sich nun pflichtschuldigst anstellte.

Kaum hatte er einige Minuten gestanden und war etwa um zehn Plätze vorgerückt, als er sah, dass es vorne einen kleinen Tumult gab, der dazu führte, dass ein aufgeregter Mann immer weiter in der Schlange nach hinten gewissermaßen durchgereicht wurde. Irgendwann verstand er, worum es ging. Der Mann hatte wohl ein krankes Kind, für das er schnell noch etwas einkaufen wollte, und er bat jetzt – anscheinend stets vergeblich – darum, dass ihn jemand vorlassen möge.

Schließlich hatte er unseren Herrn Tugendhaft erreicht, der es selbstverständlich für eine gute Regel der Sittlichkeit hielt,  einen solchen Menschen in Not bevorzugt zu behandeln. Leider waren die Leute hinter ihm nicht der gleichen Meinung, und um ihren Zorn zu besänftigen, musste er sie alle auch vorlassen, so dass er selbst wieder am Ende der Schlange stand, hungrig, aber im Gefühl, die Welt ein bisschen besser gemacht zu haben.

Kaum hatte er sich wieder einige Plätze vor gearbeitet oder besser „vorgewartet“, als von rechts ein altes Mütterchen an die Schlange heranschlurfte, mühsam ihren Rollator vor sich herschiebend. Herr Tugendhaft wusste jetzt schon, dass es hier ohne sein vorbildliches Engagement keine Lösung geben würde und dass er auch die Folgen seiner guten Tat würde wieder auf sich nehmen müssen. Also machte er Platz für das Mütterchen und stellte sich ganz von selbst und ohne Zögern am Ende der Schlange wieder an.

So ging es noch einige Male. Bei unserem Vorbild der Moral wuchsen die guten Gefühle genauso wie der Hunger und es verwundert uns kaum, dass er am Ende vor einer verschlossenen Eingangstür stand, nichts mehr zu essen bekam und sich mit letzten Kräften auf den Weg nach Hause machte. Wünschen wir ihm, dass dieses Beispiel nicht damit endet, dass er auch noch erschöpft in einen Straßengraben fällt und dort sein edles Leben vorzeitig beschließt.“

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