Kafka, „Die Verwandlung“ – Abschnitt 10: Geldprobleme und Beziehungen

Inhalt des 10. Abschnittes: Familie zwischen Geldproblemen und Interesse an Gregor

  1. Trotz des Guthabens muss Geld verdient werden, Gregor mutet das keinem der anderen zu und er fühlt sogar „Beschämung und Trauer“.
    Hier merkt man wie falsch dieses Familienleben angelegt und eingerichtet ist.]

    • „Nun genügte dieses Geld aber ganz und gar nicht, um die Familie etwa von den Zinsen leben zu lassen; es genügte vielleicht, um die Familie ein, höchstens zwei Jahre zu erhalten, mehr war es nicht. Es war also bloß eine Summe, die man eigentlich nicht angreifen durfte, und die für den Notfall zurückgelegt werden mußte; das Geld zum Leben aber musste man verdienen.
    • Nun war aber der Vater ein zwar gesunder, aber alter Mann, der schon fünf Jahre nichts gearbeitet hatte und sich jedenfalls nicht viel zutrauen durfte; er hatte in diesen fünf Jahren, welche die ersten Ferien seines mühevollen und doch erfolglosen Lebens waren, viel Fett angesetzt und war dadurch recht schwerfällig geworden.
    • Und die alte Mutter sollte nun vielleicht Geld verdienen, die an Asthma litt, der eine Wanderung durch die Wohnung schon Anstrengung verursachte, und die jeden zweiten Tag in Atembeschwerden auf dem Sopha beim offenen Fenster verbrachte?
    • Und die Schwester sollte Geld verdienen, die noch ein Kind war mit ihren siebzehn Jahren, und der ihre bisherige Lebensweise so sehr zu gönnen war, die daraus bestanden hatte, sich nett zu kleiden, lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an ein paar bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und vor allem Violine zu spielen?
    • Wenn die Rede auf diese Notwendigkeit des Geldverdienens kam, ließ zuerst immer Gregor die Türe los und warf sich auf das neben der Tür befindliche kühle Ledersofa, denn ihm war ganz heiß vor Beschämung und Trauer.“
  2. Hier sieht man, wie unruhig Gregor ist und wie stark ihn die Sehnsucht nach draußen, nach einem anderen Leben plagt. Das zweite Zitat zeigt dann, dass die Schwester in dieser Phase ihn noch unterstützt. Es gibt also offensichtlich eine gegenseitige geschwisterliche Zuneigung – man denke an die Idee mit dem Musikunterricht.
    • „Oft lag er dort die ganzen langen Nächte über, schlief keinen Augenblick und scharrte nur stundenlang auf dem Leder. Oder er scheute nicht die große Mühe, einen Sessel zum Fenster zu schieben, dann die Fensterbrüstung hinaufzukriechen und, in den Sessel gestemmt, sich ans Fenster zu lehnen, offenbar nur in irgendeiner Erinnerung an das Befreiende, das früher für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen.“
    • „Nur zweimal hatte die aufmerksame Schwester sehen müssen, daß der Sessel beim Fenster stand, als sie schon jedesmal, nachdem sie das Zimmer aufgeräumt hatte, den Sessel wieder genau zum Fenster hinschob, ja sogar von nun ab den inneren Fensterflügel offen ließ.“
  3. Der folgende Abschnitt zeigt sehr gut, welche Schwierigkeiten der Verständigung und des Miteinanders sich zwischen den Geschwistern ergeben.
    Noch ein paar Anmerkungen zu Details:
    Hier wird deutlich, wie viel Bemühen auf beiden Seiten durchaus da ist, aber eben die Situation auch zu Schwierigkeiten führt. Interessant ist hier, dass nicht ganz klar ist, ob die Schwester das Fenster in ähnlicher Absicht aufreißt, wie Gregor hindurchschaut. Oder ob ihr die Situation im Zimmer zu eng wird. Aber auch das könnte man (dialektisch gesehen) positiv sehen, denn die Situation im Zimmer ist ja eine Folge der falschen Verhältnisse. Bedauerlich ist, dass Gregor am Ende eher eine negative Interpretationsvariante wählt, die sich gegen ihn richtet und nicht gegen die Verhältnisse.
    Daraus wird schließlich die Leintuch-Zusatzabgrenzung, die Gregor wählt.

    • „Hätte Gregor nur mit der Schwester sprechen und ihr für alles danken können, was sie für ihn machen mußte, er hätte ihre Dienste leichter ertragen; so aber litt er darunter.
    • Die Schwester suchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichst zu verwischen, und je längere Zeit verging, desto besser gelang es ihr natürlich auch,
    • aber auch Gregor durchschaute mit der Zeit alles viel genauer. Schon ihr Eintritt war für ihn schrecklich. Kaum war sie eingetreten, lief sie, ohne sich Zeit zu nehmen, die Türe zu schließen, so sehr sie sonst darauf achtete, jedem den Anblick von Gregors Zimmer zu ersparen, geradewegs zum Fenster und riss es, als ersticke sie fast, mit hastigen Händen auf, blieb auch, selbst wenn es noch so kalt war, ein Weilchen beim Fenster und atmete tief.
    • Mit diesem Laufen und Lärmen erschreckte sie Gregor täglich zweimal; die ganze Zeit über zitterte er unter dem Kanapee und wusste doch sehr gut, dass sie ihn gewiss gerne damit verschont hätte, wenn es ihr nur möglich gewesen wäre, sich in einem Zimmer, in dem sich Gregor befand, bei geschlossenem Fenster aufzuhalten.“
  4. Im letzten Abschnitt geht es um die allgemeine Familiensituation. Die Eltern sind durchaus begierig, von der Schwester alles über Gregor zu erfahren. Sie tun aber selbst nichts. Das ändert sich dann allerdings bei der Mutter, deren Wunsch, ihren Sohn zu sehen, immer größer wird. Gregor macht jetzt auch deutlich, dass er sich von seiner Mutter möglicherweise besser verstanden fühlt als von seiner Schwester. Der unterstellt er eher ungünstige Motive beziehungsweise Hintergründe. Er spricht nämlich von kindlichem Leichtsinn.
    • „In den ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit der Schwester völlig erkannten, während sie sich bisher häufig über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war.
    • Nun aber warteten oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schwester dort aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, musste sie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen hatte, wie er sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Besserung zu bemerken war.
      Erstaunlich, wie distanziert sich die Eltern hier zunächst verhalten, als wäre es nicht ihr Sohn.
    • Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig bald Gregor besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zuerst mit Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, und die er vollständig billigte.
      Hier ist wieder interessant, dass die Mutter doch noch menschliche Gefühle zeigt, Gregor aber das nicht für sich nutzt, sondern sich auf die Seite seiner Gegner stellt.
    • Später aber musste man sie mit Gewalt zurückhalten, und wenn sie dann rief: »Lass mich doch zu Gregor, er ist ja mein unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, daß ich zu ihm muss?«, dann dachte Gregor, dass es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter hereinkäme, nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche;
    • sie verstand doch alles viel besser als die Schwester, die trotz all ihrem Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus kindlichem Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte.“
      Hierüber könnte man natürlich diskutieren, ob Gregors Leichtsinn-These vom Text her plausibel ist.

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