Kafka, „Die Verwandlung“ – Abschnitt 12: Gregor versucht, sein altes Leben zu retten

12. Abschnitt:

Wir nehmen hier den Textausschnitt als Basis, der in der Form auf der folgenden Seite zu finden ist:
https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/verwandl/verwa012.html

Kern des Inhalts:

  1. Gregor will jetzt alles tun, um den bisherigen Zustand seines Zimmers zu erhalten. Dabei spielt das Bild der Dame eine wichtige Rolle.
  2. Die Schwester stellt sich auf die Seite des Vaters – gegen Gregor.
  3. Alles deutet auf eine gefährliche Situation für ihn hin – er kann nur noch versuchen, den aufgebrachten Mann zu besänftigen.
    1. „Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, dass ja nichts Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein paar Möbel umgestellt würden, wirkte doch, wie er sich bald eingestehen mußte, dieses Hin- und Hergehen der Frauen, ihre kleinen Zurufe, das Kratzen der Möbel auf dem Boden, wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er musste sich, so fest er Kopf und Beine an sich zog und den Leib bis an den Boden drückte, unweigerlich sagen, dass er das Ganze nicht lange aushalten werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb war […] da hatte er wirklich keine Zeit mehr, die guten Absichten zu prüfen, welche die zwei Frauen hatten, deren Existenz er übrigens fast vergessen hatte, denn vor Erschöpfung arbeiteten sie schon stumm, und man hörte nur das schwere Tappen ihrer Füße.“
      • Gregor hat sich nicht nur von den Worten seiner Mutter beeinflussen lassen, sondern er arbeitet den Gedanken jetzt auch richtig aus, indem er aus seiner Erinnerung alles herausholt, was er jetzt plötzlich gefährdet sieht.
      • Für die neurotische Fixierung spricht auch, dass er am Ende an die beiden „Frauen“, man achte auf die distanzierte Bezeichnung von Familienmitgliedern, gar nicht mehr denkt.
    2. „Und so brach er denn hervor […] da sah er an der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und presste sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat. Dieses Bild wenigstens, das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiss niemand wegnehmen.“
      • Interessant, worauf Gregor sich konzentriert, nämlich auf das Bild der Frau, das schon am Anfang der Erzählung eine im Vergleich zu der Gesamtsituation  erstaunlich große Rolle gespielt hat.
      • Der Eindruck verstärkt sich, dass dieses Bild ein Symbol ist für ein anderes, selbstbestimmtes Leben, in dem neben der vermeintlichen Pflicht auch Liebe und privates Glück ihren Platz haben.

    3. Die Schwester versucht die Mutter vor dem Anblick Gregors zu bewahren, was dieser wie folgt kommentiert:
      „Die Absicht Gretes war für Gregor klar, sie wollte die Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen. Nun, sie konnte es ja immerhin versuchen! Er saß auf seinem Bild und gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Gesicht springen.“

      • Das Neurotische geht hier weiter, indem Gregor sich jetzt wieder in Fantasien hineinsteigert, was die anderen angeblich vorhaben. Bezeichnenderweise entsteht aus der Angst Aggression.
    4. „Aber Gretes Worte hatten die Mutter erst recht beunruhigt, sie trat zur Seite, erblickte den riesigen braunen Fleck auf der geblümten Tapete, rief, ehe ihr eigentlich zum Bewußtsein kam, daß das Gregor war, was sie sah, mit schreiender, rauher Stimme: »Ach Gott, ach Gott!« und fiel mit ausgebreiteten Armen, als gebe sie alles auf, über das Kanapee hin und rührte sich nicht. »Du, Gregor!« rief die Schwester mit erhobener Faust und eindringlichen Blicken. Es waren seit der Verwandlung die ersten Worte, die sie unmittelbar an ihn gerichtet hatte.
      […]  Gregor war nun von der Mutter abgeschlossen, die durch seine Schuld vielleicht dem Tod nahe war; die Tür durfte er nicht öffnen, wollte er die Schwester, die bei der Mutter bleiben musste, nicht verjagen; er hatte jetzt nichts zu tun, als zu warten; und von Selbstvorwürfen und Besorgnis bedrängt, begann er zu kriechen, überkroch alles, Wände, Möbel und Zimmerdecke und fiel endlich in seiner Verzweiflung, als sich das ganze Zimmer schon um ihn zu drehen anfing, mitten auf den großen Tisch.“

      • Deutlich wird hier das Ausmaß der Panik, das inzwischen sich als Potenzial aufgebaut hat und nun ausbricht.
      • Typisch für Gregor ist, dass er sich am Ende „von Selbstvorwürfen und Besorgnis bedrängt“ fühlt und voller „Verzweiflung“ ist.
    5. Als der Vater nach Hause kommt, wirft sich die Schwester an seine Brust und fasst das Geschehen so zusammen:
      „»Die Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr schon besser. Gregor ist ausgebrochen.« »Ich habe es ja erwartet«, sagte der Vater, »ich habe es euch ja immer gesagt, aber ihr Frauen wollt nicht hören.«“

      • In diesem Absatz wird erst mal deutlich, dass die Schwester sich jetzt ganz eindeutig gegen Gregor stellt, indem sie mit dem Satz: „Gregor ist ausgebrochen“ dem Vater die Vorlage liefert, um jetzt seine harte Haltung auszuleben.
    6. „Gregor war es klar, daß der Vater Gretes allzu kurze Mitteilung schlecht gedeutet hatte und annahm, daß Gregor sich irgendeine Gewalttat habe zuschulden kommen lassen. Deshalb mußte Gregor den Vater jetzt zu besänftigen suchen, denn ihn aufzuklären hatte er weder Zeit noch Möglichkeit.“
      • Hier wird deutlich, dass Gregor sofort die Gefährlichkeit der Situation für ihn erkennt und alles versucht, einer möglichen harten Reaktion des Vaters die Voraussetzung zu nehmen.
    7. „Aber der Vater war nicht in der Stimmung, solche Feinheiten zu bemerken; »Ah!« rief er gleich beim Eintritt in einem Tone, als sei er gleichzeitig wütend und froh. Gregor zog den Kopf von der Tür zurück und hob ihn gegen den Vater. So hatte er sich den Vater wirklich nicht vorgestellt, wie er jetzt dastand;  [… ]war das noch der Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war; der ihn an Abenden der Heimkehr im Schlafrock im Lehnstuhl empfangen hatte; gar nicht recht imstande war, aufzustehen, sondern zum Zeichen der Freude nur die Arme gehoben hatte, und der bei den seltenen gemeinsamen Spaziergängen an ein paar Sonntagen im Jahr und an den höchsten Feiertagen zwischen Gregor und der Mutter, die schon an und für sich langsam gingen, immer noch ein wenig langsamer, in seinen alten Mantel eingepackt, mit stets vorsichtig aufgesetztem Krückstock sich vorwärts arbeitete und, wenn er etwas sagen wollte, fast immer stillstand und seine Begleitung um sich versammelte?“
      • Hier wird zum einen deutlich, dass die Reaktion des Vaters aus zwei sehr unterschiedlichen Quellen gespeist wird („gleichzeitig wütend und froh“).
      • Zum anderen machen Gregors Überlegungen klar, dass auch der Vater eine Verwandlung erlebt hat.
      • Übrigens kann man sich hier gut Gedanken machen, ob die Unterteilung der Seiten in der Ausgabe im Internet an dieser Stelle günstig ist. Sie wirkt wie eine Art Cliffhanger.

Weiterführende Hinweise