1871-1890: Die Jahre Bismarcks im neuen Kaiserreich (ausführlich)
Nachdem wir uns jetzt in einer Art Längsschnitt mit einer der wirkungsmächtigsten gesellschaftlichen und politischen Theorien beschäftigt haben, ist es Zeit, zu Bismarcks Kaiserreich zurückzukehren.
1.1 Der neue Kaiser – nicht „von Deutschland“
Nach dem Sieg über Frankreich wurde im Herzen Frankreichs, im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, der preußische König Wilhelm zum deutschen Kaiser ausgerufen. Der Titel „Kaiser von Deutschland“, den er gern gehabt hätte, wurde ihm dann doch von seinen Monarchen-Kollegen nicht zugestanden.
1.2 Ein Fürstenbündnis – im Bundesrat
Bei der inneren Ordnung des neuen Staates konnte man auf die Verfassung des so genannten Norddeutschen Bundes zurückgreifen, der nach dem Sieg über Österreich 1867 unter Preußens Leitung geschaffen worden war. Zu den Grundbausteinen gehörte zunächst der von den Fürsten bestimmte Bundesrat, der im Unterschied zu heute das wichtigere parlamentarische Organ war. Er konnte rein theoretisch jederzeit das Kaiserreich auch wieder auflösen – und Bismarck hat hin und wieder durchaus mit diesem Gedanken gespielt.
1.3 Schon eine Menge Demokratie – im Reichstag
Daneben gab es den Reichstag, der sehr demokratisch gewählt wurde, allerdings in einem Mehrheitswahlrecht, was ein starkes Anwachsen der Sozialdemokraten bis 1912 verhinderte. Sie fanden einfach bei den meist nötigen Stichwahlen im zweiten Wahlgang keine Partner – schließlich galten sie als Reichsfeinde.
Was die Macht der direkten Volksvertretung anging, so konnte der Reichstag zwar nicht selbst und schon gar nicht alleine Gesetze machen, er hatte auch keinen direkten Einfluss auf die vom Kaiser bestimmte Regierung, aber das Volk hatte erstmals ein Sprachrohr, auf dessen Mitwirkung die Regierung ähnlich wie im preußischen Verfassungskonflikt von 1862 angewiesen war.
Es spricht einiges dafür, dass der Erste Weltkrieg auch deshalb von den führenden Schichten des Kaiserreichs gewollt bzw. zumindest riskiert wurde, weil man damit dem ständig wachsenden Einfluss des Parlaments und damit auch der SPD entgehen konnte.
1.4 Reichsfeind Nr. 1: das Zentrum als „Papstpartei“
Die innere Entwicklung des Kaiserreichs war in den ersten Jahren vor allem bestimmt durch ein inneres Zusammenwachsen, von dem zwei Gruppen der Bevölkerung allerdings deutlich ausgeschlossen wurden. Gegen die katholische Kirche wurde vor allem in Preußen der sogenannte Kulturkampf geführt, weil man der Meinung war, dass die Loyalität gegenüber dem Papst die Loyalität gegenüber dem eigenen Staat zu sehr einschränkte. Letztlich musste Bismarck einsehen, dass man eine Religion nicht mit der Polizei bekämpfen kann, und so kam es am Ende zu einem Kompromiss. Die Kirche konnte ihre eigenen Angelegenheiten wieder weitgehend selbstständig regeln, musste allerdings ihre Kompetenzen im Bereich der Schule und der familiären Angelegenheiten (Eheschließung) weitgehend dem Staat überlassen.
1.5 Reichsfeind Nr. 2: die SPD als „Umsturzpartei“
Die zweite und noch stärker der Feindschaft gegenüber dem Staat verdächtigte Gruppe waren die Sozialdemokraten, gegen die Bismarck nach mehreren Attentaten 1878 das sogenannte Sozialistengesetz durchsetzen konnte. Dieses beschränkte zwar die politischen Möglichkeiten der SPD, an den Reichstagswahlen durfte sie aber weiterhin teilnehmen – und so gelang auch hier Bismarck kein wirklicher Sieg durch Repression. Also setzte er ergänzend auf den Versuch, die Arbeiter durch eine staatliche Sozialversicherung von den Vorteilen des Systems zu überzeugen und an den Staat zu binden.
1.6 Die SPD auf dem Weg zur Reformpartei
Tatsächlich entfernte sich die SPD um 1900 immer stärker von ihren marxistischen Grundlagen, setzte nicht mehr nur auf Revolution, sondern auf Reformen. Daran hatten natürlich die Gewerkschaften mit ihren praktischen Bemühungen um die Verbesserung der Lage der Arbeiter einen großen Anteil.
2 Bismarck ein großer Staatsmann?
Heute hat sich in der Geschichtswissenschaft eine große Skepsis gegenüber der Bedeutung einzelner Menschen in der Geschichte durchgesetzt. So kann man am Beispiel Bismarcks gleich zwei Fragen prüfen: Erstens, wie groß sein Einfluss auf den Verlauf der Geschichte war, und zweitens, ob sich mit seiner Person eher Fortschritt oder Rückschritt verbindet.
2.1 Bismarck – noch heute gut für Straßen, Plätze und Denkmäler
Für die Deutschen nach 1871 war es ganz klar: Otto von Bismarck war ein großer Staatsmann. Er hatte ihnen im Jahr 1871 endlich wieder ein einheitliches Deutsches Reich geschenkt, nachdem es über viele Jahrzehnte hinweg nur Bayern, Sachsen oder Preußen gegeben hatte. Noch heute sieht man an den vielen Denkmälern oder auch Straßennamen, wie sehr dieser Mann verehrt wurde.
2.2 Das schlimme Erbe des Sieges von 1871
Das Problem war nur, dass dieses neue Reich durch drei Kriege gegründet wurde, wobei der letzte – gegen Frankreich – besonders schlimme Folgen zeigen sollte. Die Militärs zwangen Bismarck, dem geschlagenen Gegner zwei große Provinzen im Osten (Elsass und Lothringen) wegzunehmen. Zum einen gingen sie davon aus, dass Strafe nun einmal sein muss. Frankreich hatte ihnen den Krieg erklärt und ihn verloren, jetzt musste es dafür einen Preis bezahlen. Zugleich bekam man damit natürlich eine militärisch sehr viel günstigere Situation, wenn die deutsche Grenze gegenüber Frankreich nach Westen verschoben war.
Das bedeutete aber zugleich, dass Deutschland auf Dauer einen unversöhnlichen Feind im Westen hatte und immer befürchten musste, dass dieses Frankreich sich auch noch mit Russland zusammentat. Das hätte für Deutschland einen Zweifrontenkrieg bedeutet – und der wäre kaum zu gewinnen gewesen. Was man sich also als Sicherheit ausgedacht hatte, führte auf Dauer zu mehr Unsicherheit.
Dazu kam natürlich, dass Bismarck es nicht verhindern konnte oder wollte, dass das neue deutsche Kaiserreich mitten im Kerngebiet Frankreichs, im Spiegelsaal des berühmten Schlosses von Versailles ausgerufen wurde. Das vergrößerte zusätzlich den Hass der Franzosen auf das jetzt so mächtig gewordene Reich an ihrer Ostgrenze.
2.2a: Bismarcks vorsichtige Kolonialpolitik
Bismarck war keineswegs ein Freund der neuen imperialistischen Tendenz hin zum Erwerb von Kolonien:
Der Grund: Weil er genug damit zu tun hatte, das gerade gegründete Deutsche Reich nach außen hin abzusichern, vor allem gegenüber Frankreich.
Darum unterstützte er dieses Land auch eher bei seinen Bestrebungen in Nordafrika, weil es damit von Elsass-Lothringen abgelenkt war.
Und mit dem englischen Weltreich wollte er auch in keine Konkurrenzsituation kommen.
Bismarck wurde dann später durch Kaufleute/die Wirtschaft gezwungen, sich um Gebiete fern von Deutschland zu kümmern. Aber auch dann übernahm das Reich nur den Schutz der neuen Gebiete, darum auch der entsprechende Name: „Schutzgebiete“.
2.3 Bismarcks Konzept: Isolierung Frankreichs
Bismarck versuchte die Sicherheitslage Deutschlands dadurch zu verbessern, dass er Frankreich möglichst isolierte. Das bedeutete vor allem, dass Deutschland eine möglichst enge Verbindung mit Russland einging. Das Problem war dabei nur, dass der wichtigste Verbündete Deutschlands, das Kaiserreich Österreich-Ungarn, selbst viele Streitpunkte mit Russland hatte – vor allem auf dem Balkan. Bismarck löste das Problem auf eine für ihn und seine Zeit typische Weise, indem er einen geheimen Rückversicherungsvertrag mit Russland schloss. Der bedeutete, dass beide Länder neutral bleiben würden, wenn das jeweils andere von seinem Hauptfeind angegriffen würde.
Das war natürlich im Prinzip eine friedenssichernde Maßnahme, nur durfte verständlicherweise Österreich-Ungarn nichts davon wissen, denn ein Bündnis mit einer solchen Einschränkung ist nur die Hälfte wert.
2.4 Die Grenze von Bismarcks Außenpolitik: Geheimpolitik kann auf Dauer nicht geheim bleiben
Womit Bismarck damals überhaupt noch nicht rechnete oder auch rechnen musste, war, dass Außenpolitik nicht nur zwischen Regierungen gemacht wird, sondern auch die Völker einbezogen werden müssen. Aus heutiger Sicht wäre es völlig undenkbar, dass ein verbündetes Land wie Österreich – Ungarn meint, aus irgendwelchen guten Gründen gegen Russland Krieg führen zu müssen und die deutsche Bevölkerung nimmt es hin, dass man ihren Blutsbrüdern nicht hilft. Sie wissen ja nichts von dem geheimen Vertrag und den Gründen, die hinter ihm stecken.
So war es denn auch kein Wunder, dass die Nachfolger Bismarcks nach seinem Sturz 1890 diesen Rückversicherungsvertrag sofort wie eine heiße Kartoffel fallen ließen. Anschließend trat genau das ein, was Bismarck immer gefürchtet hatte: Als die Russen vergeblich versuchten, den Rückversicherungsvertrag weiter zu verlängern, wandten sie sich Frankreich zu und schlossen mit diesem Land ein Bündnis.
An diesem Beispiel kann man sehr gut sehen, dass Bismarck eine hohe Bündniskunst betrieb, Dass diese aber eigentlich schon nicht mehr in die moderne, demokratische Zeit passte, wo die Völker wissen wollen, warum ihre Regierungen was tun oder auch nicht.
2.5 Die Grenze von Bismarcks Innenpolitik: Demokratie nur im Rahmen des monarchischen Systems
Damit sind wir beim zweiten Problem, das sich mit Bismarck verbindet. Er war von seiner ganzen Herkunft her jemand, der mit Demokratie nicht viel im Sinn hatte. Zwar gab er dem neuen deutschen Kaiserreich von 1871 eine sehr moderne Verfassung mit einem demokratischen Wahlrecht – aber viel Macht hatten die Abgeordneten des gewählten Reichstags nicht. Der Reichskanzler als Regierungschef wurde allein von Kaiser bestimmt – der Reichstag konnte auch nicht einmal allein Gesetze machen, sondern brauchte dazu die Zustimmung des Bundesrats – und in dem saßen nur die nicht gewählten Vertreter der Fürsten.
2.6 Bismarcks „Peitschenpolitik“ gegenüber der Arbeiterbewegung
Kommen wir zu einem dritten Punkt, den man beachten muss, wenn es darum geht, diesen Bismarck richtig einzuschätzen. Zu seinem konservativen Denken gehörte, dass er nichts so sehr fürchtete wie eine grundsätzliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Nun gab es aber seit der Industriellen Revolution und den damit verbundenen sozialen Problemen mit der SPD eine Partei, die mit dem Gedanken einer Revolution zumindest spielte. Dazu kam, dass diese Partei immer mehr Anhänger bekam.
Bismarck versuchte schließlich, mit Gewalt gegen diese Bewegung vorzugehen, indem er ein sogenanntes Sozialistengesetz beschließen ließ. Die Sozialdemokraten dürften zwar weiter zu Wahlen antreten, ein freies politisches Leben war ihnen aber nicht möglich. Alles musste mehr oder weniger im Geheimen geschehen, sonst hatte man die Polizei am Hals. Dennoch bekam die SPD im Laufe der Jahre immer mehr Wählerstimmen und wurde 1912, also zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, sogar zur stärksten Partei im Reichstag.
2.7 Bismarcks „Zuckerbrotpolitik“ gegenüber der Arbeiterbewegung
Zu den guten Seiten Bismarcks gehörte nun wiederum, dass er nicht allein auf Gewalt setzte, sondern versuchte, neben der Peitsche auch das Zuckerbrot einzusetzen. Während noch vor kurzem der amerikanische Präsident Barack Obama riesige Probleme hatte, allen Amerikanern eine Gesundheitsversicherung zu geben, wurde die mit einer Unfallversicherung und einer Rentenversicherung mehr als 120 Jahre früher in Deutschland bereits eingeführt. Bismarck war es auch, der mit seinen Beratern auf die kluge Idee kam, die Beiträge zu diesen Versicherungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu teilen. Dies sollte sich bis in die heutige Zeit hinein als ein sehr fortschrittliches System erweisen, das von anderen Ländern nachgeahmt wurde.
2.8 Bismarck als „weißer Revolutionär“
Fassen wir zusammen: Bismarck wird nicht von ungefähr als weißer Revolutionär bezeichnet. Er war zwar ein Konservativer, der sich als Gefolgsmann seines Königs oder Kaisers fühlte und die Macht des Staates in vollem Umfang erhalten wollte – er hatte aber auch keine Probleme damit, an den Stellen, wo es für günstig hielt, Reformen durchzuführen.
Wenn er glaubte, dass ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht dazu führen würde, dass die damals noch grundsätzlich monarchistisch gesinnten Deutschen die königlich – kaiserliche Regierung unterstützen würden, dann führte er es eben ein. Wenn er eine Möglichkeit sah, auch die Arbeiterschaft auf die Seite des Staates zu ziehen, indem er ihre Lebensrisiken versicherte, dann gab es eben eine staatliche Sozialversicherung.
2.9 Die Idee der staatlichen Sozialversicherung
Bismarck fürchtete wie viele andere seiner Zeit nichts so sehr wie eine kommunistische Revolution. Deshalb bekämpfte er die Sozialdemokratie mit dem sog. Sozialistengesetz (1878-1890). Ihm war aber auch klar, dass eine solch negative Reaktion nicht reichen würde – deshalb entwickelte er die Idee einer gesetzlichen Sozialversicherung, was er den Kaiser 1881 in einer Rede verkünden ließ.
Die Grundidee, die bis heute vorbildlich ist, ist die Aufteilung der Kosten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
1883 wird als erstes eine Krankenversicherung geschaffen.
1884 folgt eine Unfallversicherung, an der sich aber nur die Arbeitgeber beteiligen müssen – schließlich sollen sie ihre Betriebe unfallsicher machen.
1891 kommt dann noch die Altersversicherung hinzu.
Eine Arbeitslosenversicherung konnte sich zu Bismarcks Zeiten niemand vorstellen, die wurde erst 1927 in der Weimarer Republik eingeführt.
Heute wird Bismarcks System immer weiter ausgehöhlt, indem die Arbeitnehmer allein Zusatzbeiträge zur Krankenversicherung zahlen müssen. Dazu ist noch eine Pflegeversicherung gekommen.
Insgesamt gehört die staatliche Sozialversicherung, wie sie in Deutschland geschaffen wurde, zu den modernsten Ansätzen in diesem Bereich.
2.10 Bismarcks Entlassung durch den jungen Kaiser Wilhelm II.
All das änderte nichts daran, dass er jederzeit bereit gewesen wäre, das neue deutsche Kaiserreich auch wieder aufzulösen und neu zu gründen, wenn die Deutschen nicht genügend mitgespielt hätten. Auch war er für eine Verlängerung des Sozialistengesetzes und den Einsatz aller Machtmittel des Staates gegen Streiks und Demonstrationen und zeigte sich damit als ein Politiker, der letztlich nicht begriffen hatte, dass immer mehr Menschen nicht mehr bereit waren, auf Menschenrechte und Mitbestimmung zu verzichten.
Der neue Kaiser Wilhelm II, der 1888 sehr jung Nachfolger seines berühmten Großvaters wurde, mit dem Bismarck über Jahrzehnte hinweg eng zusammengearbeitet hatte, wollte eine solche Politik gegen breite Schichten des Volkes nicht mehr mittragen, was mit zur Entlassung Bismarcks führte. Leider zeigte sich dann zwei Jahrzehnte später, dass dieser Kaiser zwar in vielen Punkten moderner dachte als Bismarck, auf der anderen Seite aber auch viel weniger in der Lage war, den Frieden zu bewahren. So wurde der Mann, der die Deutschen „herrlichen Zeiten“ entgegen führen wollte, zum Totengräber ihres Staates und zum Mitverursacher des Todes von Millionen Menschen im Ersten Weltkrieg.
Ob Bismarck diese Katastrophe hätte verhindern können, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Er stammte einfach noch aus einer alten Zeit ohne demokratische Mitbestimmung und hätte mit Sicherheit größte Schwierigkeiten bekommen, wenn immer größere Teile des Volkes genau diese verlangt hätten.
Weiterführende Hinweise
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