Vergleich: Klaus Konjetzky, „An die Eltern“ und Wolfgang Hilbig, „ihr habt mir ein haus gebaut“

Zwei Gedichte, die sich an die Eltern richten

Vor Jahren haben wir in einer Zeitung das Gedicht „ihr habt mir ein haus gebaut“ von Wolfgang Hilbig gelesen und  waren positiv überrascht: Da wurde zunächst einmal den Eltern eine richtige Anti-Stimmung entgegengehalten – und am Ende dann das überraschende: „sagtet ihr man soll allein gehen / würd  ich gehen / mit euch.“ Damit ist wunderbar ausgedrückt, was das Verhältnis von Kindern und Eltern bestimmen kann, nämlich eine für die Entwicklung notwendige Opposition. Mit der kann man möglicherweise anders und erfolgreicher umgehen, als man normalerweise denkt.

Dieses Gedicht ist auf einer Google-Books-Seite zu finden.

Vor kurzem sind wir dann noch auf ein zweites Gedicht gestoßen. Klaus Konjetzky hat es „An die Eltern“ gerichtet, das leider in der Beschreibung der Gegensätze verbleibt.

Das Gedicht ist in der folgenden Sammlung zu finden.

Wir sollten uns das mal genauer anschauen.

Wolfgang Hilbig, „ihr habt mir ein haus gebaut“

  • Das Gedicht beginnt mit der Feststellung: „ihr habt mir ein haus gebaut“. Es geht also darum, dass andere Menschen – am ehesten ist wohl wirklich an die Eltern zu denken – dem Kind schon ein Heim und damit auch einen festen Platz besorgen. Sie denken sicher nicht daran, dass so etwas auch einengen kann – obwohl man das aus vielen Familiengeschichten kennt. Zumindest in früheren Zeiten erwartete man, dass der „Sprössling“ zum Beispiel das elterliche Unternehmen übernahm.
  • Dieser Vorsorge wird ein „lasst mich ein andres anfangen“ entgegengestellt. Eine sehr interessante Formulierung, denn das lyrische Ich, hier das Kind, will gar nicht ausbrechen, es will nur die Chance haben, sich selbst ein Haus zu bauen – und zwar geht es nur um den Start. Da gibt es noch keinen fertigen  Bauplan. Hier stehen sich also ein auch einengendes Endergebnis einem Anfang gegenüber. Wenn man das Gedicht „Stufen“ von Hesse kennt, dann fällt einem möglicherweise die Zeile ein: „Jedem Anfang wohl ein Zauber inne.“ Und das ist genau der Punkt, um den die nächste Generation nicht betrogen werden will.
  • Die zweite Hälfte der ersten Strophe reduziert den Ansatz dann auf aufgestellte Sessel – die wohl für Bequemlichkeit stehen. Hier lautet die Antwort: „setzt puppen in eure sessel“ – was soviel bedeutet wie: Das ist etwas für Spielzeug, nicht für Menschen, die aktiv sein wollen.
  • Die zweite Strophe startet dann insofern krass, weil dem Sparen von Geld für das Kind ein trotziges „lieber stehl ich“ entgegengesetzt wird. Das heißt, die Vorsorge der Eltern wird als so schlimm empfunden wird, dass man lieber kriminell wird – eine Horrorvorstellung für die bürgerliche Welt und dementsprechend eine besondere Provokation.
  • Die zweite Hälfte der zweiten Strophe entwickelt dann ein eher friedliches, aber trotzdem nachdrückliches Bild, nämlich den Gegensatz zwischen dem schon gebahnten Weg und der Bereitschaft, sich auch „durchs gestrüpp“ zu schlagen, „seitlich des wegs“.
  • Dann in der letzten Strophe die überraschende Wendung: Jetzt wird einfach mal hypothetisch angenommen, die Eltern würden sich ganz anders verhalten – und zwar sogar radikal anders. Sie würden sagen, „man soll allein gehen“ – sicherlich ein sehr großes Zugeständnis und ein Verzicht auf eigene Wünsche oder auch Sorgen. Dann ein klares „würd ich gehen / mit euch“.
  • Das heißt: Die Antihaltung des Nachwuchses bleibt bestehen – aber sie kann sich durch ein Zugeständnis der Eltern in ein positives Gegenteil verkehren.
  • Das darf sicher nicht als Automatismus verstanden werden, der taktisch ausgenutzt wird. Vielmehr geht es darum, dass die Eltern loslassen – und der Sohn oder die Tochter dann frei entscheiden können – und das dann auch eher im Sinne der Eltern tun, weil es mit Freiheit verbunden ist.

Klaus Konjetzky, „An die Eltern“

  • Gleich zu Beginn wird deutlich, dass es hier weniger um Vorsorge-Maßnahmen geht, sondern von Äußerungen, die mit „Verantwortung“ begründet werden, aber eigentlich ein anderes Ziel verfolgen, nämlich, „daß ich so werde wie ihr.“ Es bleibt offen, ob das nur so ein Spruch der Eltern ist – oder ob sie wirklich denken, ein verantwortungsvolles Leben könne nur so verlaufen wir ihr eigenes.
  • Im weiteren Verlauf wird das dann an einigen Beispiel klargemacht:
    • Es beginnt mit der Vorgabe von „Kultur“, bei der übersehen wird, dass auch „die Lieder Rolling Stones“ dazu gehören können.
    • Es folgt der Widerspruch zwischen einer Kritik des Fernsehkonsums und der ganz selbstverständlichen Konzentration auf eine eigene Lieblingssendung.
    • Ein weiterer Widerspruch besteht zwischen einer allgemein behaupteten Orientierung am Wesentlichen einses Menschen und der Kritik am Haarschnitt des Kindes.
    • Ähnlich geht es dann weiter, wenn „Erfahrungen“ dem Besuch einer Disco gegenübergestellt werden.
    • Ähnliches gilt dann für die Strafaktion der Sperrung des Telefons gegenüber den Prinzipien von „Vertrauen und Offenheit“
  • Man merkt hier deutlich zwei Dinge:
    • Zum einen einen typischen zeitgebundenen Generationenkonflikt. Die Vorstellungen ändern sich eben im Verlauf von zwanzig oder dreißig Jahren.
    • Zum anderen fällt auf, dass die Eltern immer eher allgemein bleiben, während das lyrische Ich das gewissermaßen konkretisiert.

Vergleich

  1. Das Gedicht von Hilbig wirkt sehr viel zeitloser, weil dort mit sehr allgemeinen Objekten wie einem Haus, einem Sessel bzw. einer Wanderung gearbeitet wird. Das zweite Gedicht wirkt zum Teil veraltet, weil es in einer ganz konkreten historischen Situation verortet ist, was man vor allem an der Musikgruppe der Rolling Stones oder an der Fernsehsendung „Dalli Dalli“ festmachen kann.
  2. Dementsprechend wäre es sicher reizvoll, den Grundcharakter des zweiten Gedichtes zu erhalten, nämlich die Widersprüchlichkeit und auch eine gewisser Scheinheiligkeit (vgl. 1-4), aber die Beispiel zu modernisieren.
  3. Unabhängig davon bleibt der Unterschiede zwischen dem Aktivismus („anfangen“, stehl“, „schlag mich“) des ersten Gedichtes und der eher passiven Klage des zweiten Textes, der am Ende sogar mit einer Strafmaßnahme der Eltern schließt, auf die keine Reaktion mehr erfolgt.
  4. Fast muss man die Befürchtung haben, dass das Kind hier möglicherweise einen Schaden davonträgt in seiner Entwicklung, während im ersten Falle zumindest in Gedanken auch an Widerstand gedacht wird.
  5. Dennoch bleibt auch hier die Position des lyrischen Ichs am Ende sehr allgemein. Sowohl berechtigte Sorgen der Eltern werden ausgeblendet als auch ein Automatismus des Anschlusses an die Eltern vorausgesagt.

Eignung der beiden Texte als Reisegedichte

Der Gedanke der Sesshaftigkeit in der ersten Strophe und die Frage des Weges in der zweiten Strophe des Gedichts von Hilbig erlauben es, diesen Text durchaus den Reisegedichten zuzuordnen. Im Falle des zweiten Gedichtes wird demgegenüber vor allem Stillstand beschrieben.

Vielleicht könnte man die notwendige kulturelle Modernisierung ergänzen um Gegensätze, die das Reisen betreffen. „Daß ich in die Diskothek gehe“ kann man ja durchaus im heutigen Sinne durch eine Abenteuerreise ersetzen, die den Eltern viel zu gefährlich erscheint.