Analyse eines Telefondialogs – Kommunikation in Kehlmanns Roman „Ich und Kaminski“
Im Roman „Ich und Kaminski“ von Daniel Kehlmann gibt es ein Telefongespräch zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Freundin Elke, die vor allem unter Kommunikationsgesichtspunkten äußerst interessant ist.
Zu finden ist dieser Romanausschnitt zum Beispiel im Oberstufen-Deutschbuch „Texte, Themen und Strukturen“ aus dem Cornelsen-Verlag, Ausgabe 2014, S. 135-136
Das folgende Schaubild soll nur zeigen, wie man die verschiedenen „Seiten“ des „Nachrichten-„Austausches zwischen den beiden Personen auch in einem Schaubild verfolgen kann. Die eigentliche Analyse des Auszugs folgt weiter unten.
Analyse der Erzählschritte unter besonderer Berücksichtigung des Verlaufs der Kommunikation
- [Eröffnung des Telefonats: Zwischen „Müssen“ und Ausweichen]
Das Telefonat beginnt mit der knallharten Ansage: „Wir müssen reden“: Der Sachinhalt zeigt schon durch das „müssen“ eine Notwendigkeit. Aber die Kürze dieser ziemlich gebräuchlichen Konflikt-Einstiegs-Wendung erhöht den Druck auf den Gesprächspartner noch. - Dementsprechend weicht der Ich-Erzähler auch aus und fragt, woher sie seine Nummer hat. Dahinter steckt die Selbstkundgabe: „Ich will nicht mit jedem telefonieren und schon gar nicht mit dir.“
- Dementsprechend ist auch die Reaktion an der anderen Seite, in der zu Recht darauf hingewiesen wird, dass es darauf gar nicht ankomme, wenn man eben reden müsse.
- Es folgt eine kurze Reflexion des Ich-Erzählers (ab jetzt: IE), die noch mal unterstreicht, wie „dringend“ (4) es seiner Freundin wohl sein muss.
- Es folgt mit dem Hinweis, er sei zur Zeit „sehr beschäftigt“ (7), ein weiterer Versuche auszuweichen.
- Elkes Antwort kann an Kürze und Klarheit nicht mehr überboten werden, wenn sie einfach – sicherlich in einem Befehlston – nur sagt: „Jetzt“ (8).
- Der IE versucht flexibel zu reagieren, indem er scheinbar zustimmt, sich anschließend aber eine Pause gönnt, in der er die Gegend betrachtet und gewissermaßen versucht Kraft zu sammeln.
- Was am Ende rauskommt, ist auch nicht sehr inhaltlich kommunikativ oder gar empathisch, wenn er nur kurz fragt: „Was ist?“ (13).
- Elke verweist auf frühere Taktiken des IE, Gesprächen auszuweichen. Dabei schlägt sie mit „wieder geschafft“ (15) einen leicht ironischen Ton an.
- Der Erzähler versucht es jetzt mit dem Hinweis auf eine angeblich schlechte Telefonverbindung, was aber von Elke sofort mit dem Hinweis auf eine Festnetzverbindung entlarvt wird.
- Der IE entschuldigt sich zumindest formal und bittet noch um etwas Zeit. Inzwischen hat ihn eine „sanfte Panik“ (22) erfasst, weil er ahnt, worauf das Gespräch hinausläuft.
— - [Das Thema im Vordergrund: die gemeinsam genutzte Wohnung]
Elke macht dann auch sofort deutlich, dass es um die gemeinsam genutzte Wohnung geht und sie möchte, dass er aus ihr verschwindet. In dem Zusammenhang erfährt der Leser auch, wie wenig selbstverantwortlich der IE sich bisher gegenüber Elke verhalten hat. - Es folgt dann ein klassisches Beispiel für die These von Watzlawick, dass man „nicht nicht kommunizieren“ kann, wenn der IE auf die ultimativer Ansage: „So kann es nicht weitergehen“ (44/45) nur mit Schweigen antwortet und das auch noch für „am wirkungsvollsten“ (46/47) hält.
— - [Das eigentliche Thema: die Beziehung zwischen Elte und dem IE]
Eine neue Ebene erreicht das Gespräch in Zeile 48, wo Elke erklärt, dass sie jemanden kennen gelernt habe. Bezeichnend ist, wie der IE darauf reagiert, nämlich zum einen mit dem Nachdenken über all die Vorzüge, die das gemeinsame Wohnen ihm gebracht hat. Von Liebe oder etwas ähnlichem ist keine Rede. Als zweites wird deutlich, dass diese Elke keinen hohen Stellenwert bei ihm hat, wenn er alles auf zählt, was ihn an ihr stört (vgl 56-58). - In Zeile 59ff zeigt Elke erstmals von sich aus durchaus Gefühle, die allerdings im Kontrast stehen zu dem, was man an Egoismus eben beim IE kennengelernt hat. Auch dass sie mit „brüchiger Stimme“ (60) spricht, zeigt, dass sie offensichtlich in dieser Beziehung emotional stärker engagiert ist als der IE.
- Dieser negative Eindruck verstärkt sich, als Elke darauf hinweist, dass „es so nicht weitergehen kann“ (64/65). Denn anschließend werden die Gedanken des IE präsentiert, bei denen es nur um Wohlstand und Komfort der Wohnung geht.
— - [Verschärfung der Gesprächsstrategie bei Elke]
Zeile 71 wird dann deutlich, in welchem Ausmaß der ich Erzähler auch dazu neigt, sich der Wirklichkeit gegenüber einfach zu verschließen, in dem er das einfach nicht glauben will, was er gerade hört. - Dies führt erkennbar zu einer Verschärfung der Gesprächsstrategie bei Elke, die jetzt kühl darauf hinweist, was sie alles schon gemacht hat oder noch machen wird, wenn der ich Erzähler nicht von sich aus verschwindet.
- Schließlich muss sie sogar soweit gehen, ihren neuen Freund einzubeziehen. Mit dem schon ziemlich drastischen Hinweis, dieser werde ihren Exfreund dann eben hinauswerfen, wenn er noch mal erscheint.
— - [Fast schon satirischer Kontrast zwischen Gefühlen und Interessen]
Wie schwer ihr dieser Beziehungswechsel aber wirklich fällt, wird in Zeile 88 deutlich, wo Elke nur noch „leise“ spricht. Der IE reagiert darauf mit einer absurden Verschiebung der realen Verhältnisse, als würde Elke ihrem neuen Freund nur wegen der allgemeinen Wohnungsnot in ihre Wohnung lassen.
— - [Bezeichnender Einblick in das sonstige soziale Umfeld des IE]
Dass es sich bei dem IE um eine eher problematische Figur handelt, wird dann ab Zeile 93 deutlich, wo er im Kopf mögliche Freunde durchgeht, die ihn aufnehmen könnten, mit denen er aber anscheinend nichts wirklich anfangen kann. Dass das in Wirklichkeit wohl auch umgekehrt ist, thematisiert der IE verständlicherweise nicht.
— - [Rückblick. Mangelndes Engagement des IE]
Der folgende Abschnitt ab Zeile 101 präsentiert den Versuch des IE, die Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Wohnung hervorzuheben. Die Reaktionen von Elke machen aber deutlich, dass er in diesem Bereich wohl ein bisschen was organisiert, aber nicht wirklich etwas geleistet hat.
— - [Kurzer Smalltalk-Exkurs]
Elke versucht dann das Sackgassen-Thema „Wohnung“ zu verlassen, indem sie kurz auf das Buchprojekt mit dem Maler Kaminski des IE eingeht.
— - [Doppelbödiges Ende des Gesprächs]
Die erstbeste Gelegenheit nutzt sie dann, das Gespräch zu beenden. Interessant ist dabei, dass sie ihm nicht nur alles Gute wünscht, sondern noch die nicht ganz klare Formulierung wählt: „Vielleicht hast du noch eine Chance.“ (119/120). - Der IE greift dann auch gleich zu dem, was er für einen Strohhalm hält und will Genaueres wissen, Elke antwortet aber nicht, sondern legt auf und geht auch bei den folgenden Anrufen des IE nicht mehr ans Telefon. Der Ausschnitt endet damit, dass der IE nach neun Fehlversuchen aufgibt.
— - [Schluss-Eindruck beim Leser]
Als Leser hat man den Eindruck, dass dies fast seine größte Leistung beim Versuch darstellt, die Beziehung am Leben zu erhalten. Das ganze Gespräch macht aber deutlich, dass es sich hier um ein sehr einseitiges Leben handelt, das wohl nur dem IE dient und auf der Gegenseite nur Schmerzen verursacht. Vor diesem Hintergrund kann man gut verstehen, dass Elke hier die Reißleine zieht.
Weiterführende Hinweise
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