Georg Heym, „Berlin III“

Georg Heym, „Berlin III“ (1911)
  • Vom Autor her und vom Zeitpunkt der Entstehung ist vom Expressionismus als Epoche bzw. Stilrichtung auszugehen.
  • Was die äußere Form angeht, handelt es sich um ein Sonett mit zwei Quartetten und zwei Terzetten.
  • Die Quartette haben umarmenden Reime (abba, cddc). Die Terzette sind verschränkt, was sich am besten durch die Buchstabenfolge efe, fef ausdrücken lässt.
  • Der Rhythmus beginnt mit einem etwas schrägen fünfhebigen Jambus („Schornsteine“ muss dabei etwas unnatürlich betont werden).
  • Der Rest des Gedichtes hat dann den gleichen Grundrhythmus, allerdings mit zwei Störungen: II,2 („Zäunen“) und IV,2 („Mützen“).
1. Schornsteine stehn in großem Zwischenraum
2. im Wintertag, und tragen seine Last,
3. des schwarzen Himmels dunkelnden Palast
4. Wie goldne Stufe brennt sein niedrer Saum.
  • Die erste Strophe ist typisch für den Expressionismus – es geht offensichtlich um eine Stadt im Winter.
  • Das Lyrische Ich hat den Eindruck, dass die Schornsteine die „Last“ des Himmels tragen.
  • Dieser wird als schwarz empfunden und als Palast gesehen, was eher ungewöhnlich ist für den Expressionismus.
  • Die letzte Zeile macht deutlich, dass es um einen Abend geht, bei dem die Sonne zumindest noch als „niedrer Saum“, also als Streifen über dem Horizont vorhanden ist.

    5. Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus,
    6. Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt,
    7. und auf vereisten Schienen mühsam schleppt
    8. Ein langer Güterzug sich schwer hinaus.

  • Die zweite Strophe des Sonetts (2 Quartette und 2 Terzette) zieht dann den Blick ins Weite, und bleibt an einem langen Güterzug hängen, der in dieser Jahreszeit (Winter) und auf Grund seiner Last nur schwer vorankommt.

    9. Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein,
    10. die Toten schaun den roten Untergang
    11. aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein.

  • Das erste Terzett wendet sich den Menschen zu – und zwar – typisch wieder für den Expressionismus – denen, die in Armut gelebt haben und deshalb nur auf einem speziellen Friedhof begraben worden sind.
  • Dann geht die Fantasie mit dem Lyrischen Ich vollkommen durch, weil es die Toten zu sehen scheint, die „den roten Untergang“ der Sonne „aus ihrem Loch“ betrachten. Hier ist von Ehrerbietung gegenüber den Toten nichts mehr zu spüren.

    12. Sie sitzen strickend an der Wand entlang,
    13. Mützen aus Ruß dem nackten Schläfenbein,
    14. zur Marseillaise, dem alten Sturmgesang.

  • Zusätzlich kommt in der Fantasie des Lyrischen Ichs noch hinzu, dass es sich die Toten beim Stricken vorstellt.
  • Dabei entstehen „Mützen aus Ruß“ – und gedacht sind sie für ihren Skelettkopf.
  • Erst die letzte Zeile macht dann deutlich, in welche Richtung das Gedicht zielt, nämlich in Richtung Revolution, denn dazu gehört die Marseillaise im historischen Zusammenhang Frankreichs.
  • Charakterisiert wird das Kampflied  als „Sturmgesang“, was wohl auf Angriff abzielt.

Insgesamt zeigt das Gedicht Eindrücke und Fantasien im Zusammenhang mit einem Winterabend, bei dem noch ein bisschen Sonne zu sehen ist.

Dem Palast des Himmels, der dunkel wird, wird ein wichtiger Bereich der menschlichen Gesellschaft gegenübergestellt, die sich nicht rechtzeitig, nämlich während ihres Lebens, wehren und um eine Verbesserung ihrer Verhältnisse wehren konnten.

Bezieht man die Rhythmusstörungen mit ein, kann man insgesamt sagen, dass dieses Gedicht eine Art unterirdische Problemsituation deutlich macht. Während in der Oberwelt alles normal zu verlaufen scheint, wenn auch etwas schwerfällig (Güterzug), wird die Welt der Armen auf drastische Weise – nämlich in scheinbarer revolutionärer Betriebsamkeit – auf den Friedhof verlegt. Hoffnung auf Besserung gibt es so nicht, ein brutales Zuspät dominiert dieses Gedicht im Bereich der Terzette.