Georg Heym, „Der Abend“

Georg Heym

Der Abend
Versunken ist der Tag in Purpurrot,
Der Strom schwimmt weiß in ungeheurer Glätte.
Ein Segel kommt. Es hebt sich aus dem Boot
Am Steuer groß des Schiffers Silhouette.
Auf allen Inseln steigt des Herbstes Wald
Mit roten Häuptern in den Raum, den klaren.
Und aus der Schluchten dunkler Tiefe hallt
Der Waldung Ton, wie Rauschen der Kitharen.
Das Dunkel ist im Osten ausgegossen,
Wie blauer Wein kommt aus gestürzter Urne.
Und ferne steht, vom Mantel schwarz umflossen,
Die hohe Nacht auf schattigem Kothurne.
Anmerkungen zu dem Gedicht:

  • Georg Heym ist einer der bekanntesten Dichter des Expressionismus und noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beim Schlittschuhlaufen tödlich verunglückt.
  • Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen und ist sehr traditionell aufgebaut, mit durchgehendem Kreuzreim und fünfhebigen Jamben.
  • Die Überschrift gibt nur den Hinweis, dass es in dem Gedicht um eine bestimmte Tageszeit, den Abend geht. Es wird zu prüfen sein, ob das eine übergeordnete Bedeutung steht, also irgendetwas mit Tod oder Weltuntergang zu tun hat, beliebten Themen des Expressionismus.
  • Die erste Zeile wirkt sehr konventionell, die zweite ist dann schon origineller und beschreibt wohl Lichteffekte auf einem großen Fluss. Die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe haben dann nicht mehr so viel mit Naturphänomenen zu tun, es geht wohl eher um das Aufsuchen des sicheren Hafens und das Näherkommen eines Segelbootes.
  • Die dritte Strophe weitet dann den Blick auf Inseln, was zunächst nicht so recht zu einem „Strom“ passt. Mit dem Herbst kommt auf jeden Fall ein zweites Motiv hinzu, das wie „Abend“ auf Ende und still werdendes Leben hindeutet.
  • Mit den „roten Häuptern“ sind wohl wie in der ersten Zeile spezielle Lichteffekte am Abend gemeint. Im Vordergrund steht dann der zunehmende dunkle Himmel. Die letzten beiden Zeilen bezieht dann noch spezifische Lauteffekte ein, die sich mit dem Abend in dieser Umgebung verbinden.
  • Die letzte Strophe verbindet dann das Dunkel des Abendhimmels mit verschüttetem Wein. Die Farbe „blau“ entspricht den Farbspielen der expressionistischen Maler, um innere Empfindungen auszudrücken.
  • Der Schluss gehört einer starken Personifizierung der Nacht, die über den Kothurn, einen speziellen Bühnenschuh der Schauspieler des griechischen Theaters, die sie größer erscheinen lassen, ins Mythologische und potenziell Tragische geht.
  • Insgesamt ein Gedicht, das Naturphänomene eines Abends assoziativ mit inneren Gefühlen und Erlebnissen verbindet.
  • Wenn von „ungeheurer Glätte“ (I,2), „der Schluchten dunkler Tiefe“ (II,3) die Rede ist und „ferne“ (III,3), „vom Mantel schwarz umflossen /  Die hohe Nacht auf schattigem Kothurne“ (III,3/4) steht, dann merkt man, dass hier den einfachen Naturereignissen eine ins Mystische gehende Bedeutung zugeschrieben wird, alles wird überhöht. Dazu passt auch die „groß“ (I,4) wirkende Silhouette des heimkehrenden Schiffers.
  • Hierbei kann es aber nur um Vorahnungen der ungeheuren Entwicklungen ab 1914 (Erster Weltkrieg, Revolutionen, Faschismus) handeln, denn Heym hat ja den Ersten Weltkrieg nicht mehr erlebt.
  • Kritische Anmerkungen: Wie bei manch anderen Gedichten des Expressionismus hat man den Eindruck, dass dieses Gedicht auf keine auch nur ansatzweise klare Botschaft hinausläuft, nicht wirklich eine erkennbare Intentionalität hat, sondern additiv mit Eindrücken und Assoziationen spielt. Das scheint weit entfernt von der Beschreibungs- und Gedankenklarheit eines Schiller oder auch eines Brecht.