Lars Krüsand, „Späte Erkenntnis“

Was macht die Kurzgeschichte „Späte Erkenntnis“ interessant?

In der Kurzgeschichte geht es um jemanden, der ein Leben lang mehr oder weniger heimlich Kurzgeschichten und Gedichte geschrieben hat. Dann bekommt er plötzlich das Angebot eines Verlages, das alles auch zu veröffentlichen.

Zugleich hat er aber eine Begegnung, die die Schattenseiten deutlich macht, die mit erfolgreichem Schreiben in der Öffentlichkeit verbunden sind.

Hier also jetzt die Geschichte, weiter unten gibt es eine Möglichkeit, sie mit Arbeitsanregungen herunterzuladen.

Hier zunächst eine Vorschau – weiter unten dann die PDF-Datei

Lars Krüsand, „Späte Erkenntnis“

Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Da wollte er zu seinem Morgenspaziergang raus – als Pensionär konnte man sich das ja leisten – und dann steht die Tochter da vor ihm – mit einem Brief in der Hand. Er wollte es erst gar nicht glauben. Da wollte ein Verlag seine Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlichen. Ja, er hatte eigentlich immer gerne geschrieben. So nebenbei. Denn als Lehrer war er eigentlich ganz gut beschäftigt gewesen. Aber es hatte einfach Spaß gemacht, das mal selbst auszuprobieren, was im Deutschunterricht immer nur auseinandergenommen wurde. Und so hatte er gelernt, wie so ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte auch zusammengesetzt wird. Manchmal hatte er sogar etwas für seine Schüler geschrieben, aber natürlich unter einem Pseudonym. Denn er war ja kein Schriftsteller. Dazu musste man wohl geboren worden sein.

Und jetzt also dieser Brief. Er nahm ihn, schaute seine Tochter groß an und sagte nur: „Tja, jetzt haben wir ein Problem!“ Er war nicht so der Typ, der gleich aufbrauste – und seine Tochter hatte es ja auch gut gemeint, als sie heimlich einige seiner Texte auf Youtube präsentiert hatte, wie sie nach einigem Zögern zugab. Sie wollte ihm später Näheres erzählen, jetzt musste sie erst mal ins Büro – und er begann seinen täglichen Gang. Wie immer am Fluss lang. Das fand er gut, wenn man sehen konnte, wie sich so ein Holzstück oder manchmal auch eine Flasche auf dem Wasser bewegte, einem unbekannten Ziel zu. Schließlich kam er bei seiner Bank an, ein bisschen Ruhe zwischendurch tat ihm gut.

Als er den Brief gelesen hatte, der tatsächlich auf einige seiner Sachen einging und sie lobte, wurde ihm ganz anders. Er war jetzt fast 70 – was wäre gewesen, wenn er früher schon einen Verlag gefunden hätte. Berühmt werden war nicht sein Ding – aber es wäre schön gewesen, offen über sein Hobby, so empfand er das, sprechen zu können. Einem Freund hatte er mal was vorgelesen und ihm erklärt, dass er einfach Geschichten und Gedichte vor sich sehen wollte, die seine Gedanken und Empfindungen ausdrückten. Wenn man etwas nicht fertig vorfand, musste man sich eben behelfen. Der Freund hatte gelacht: So bist du halt ein „Behelfsschriftsteller“. Das fand er gut. Am liebsten hätte er es in seinen Ausweis als Beruf eintragen lassen.

Jetzt wurde er irgendwie traurig. Der Verlag interessierte ihn gar nicht mehr so sehr. Was ihn beschäftigte, war die vertane Chance. Was hätte alles werden können, wenn so ein Brief – einfach nur als Anerkennung – früher gekommen wäre. Er merkte, wie es wieder aus ihm herausdrang – so hatte er das seinem Freund damals beschrieben. Er nahm sein Notizbuch raus und fing an zu schreiben. Immer wieder las er sich das laut vor, um zu prüfen, ob die Musik der Worte auch „funktionierte“ – ach nein, das war zu technisch. Ob der Klang der Wörter einfach zu einer Melodie wurde.

Plötzlich hörte er fast direkt vor sich eine Stimme – er hatte den Mann gar nicht bemerkt. Er stand einfach so da – etwas gebückt. Was gleich auffiel, war die eine Hand, die zitterte. „Entschuldigung, darf ich fragen, was Sie da machen. Das klang gut, was Sie da sagten. Schreiben Sie etwa Gedichte – hier draußen am Fluss?“ Tja, das kam davon, wenn man ganz in sich und seine Notizbuch versunken war und dann laut vor sich hinsprach. Und dann brach es einfach aus ihm heraus. Der Mann machte einen sympathischen Eindruck, er war auch bereit, sich zu ihm zu setzen. Man kannte sich nicht, das war noch besser als beim Friseur, wenn man einfach was loswerden wollte. Alles kam raus: Seine Freude am Schreiben – und die Heimlichkeit, mit der das nur getan werden konnte. Denn er hätte sich ja lächerlich gemacht, wenn er gesagt hätte: So, jetzt haben wir ein Gedicht von Rilke oder Bachmann gelesen – und jetzt kommt eins von mir. Das ging höchstens unter einem fremden Namen. Als er sich alles von der Seele geredet hatte, meinte er nur noch, schon etwas erschöpft: „Wissen Sie, was ich am traurigsten finde?“ Auch jetzt noch hörte der Mann einfach nur zu. Das hatte ihn wohl überhaupt dazu gebracht, so viel von sich zu erzählen. „Am traurigsten finde ich, dass ich all die Jahre nur so  heimlich geschrieben habe. Wie schön wäre es gewesen, wenn ich über meine Texte mit anderen hätte reden können. Denn das sind doch nie Meteoriten, die vom Himmel fallen, sie sind doch eher etwas, das wie eine Pflanze langsam wächst. Nein, keine Pflanze, bei der weiß man schon, wohin sie sich entwickelt. Texte sind was anderes, sie werden zu etwas, was es noch nicht gegeben hat. Einfach wunderbar.“ Er verstummte und blickte einfach nur auf den Fluss, während die Gedanken langsam verebbten. Da hörte er den anderen plötzlich sagen: „Wissen Sie, warum ich Ihnen so fasziniert zugehört habe? So hätte es bei mir auch laufen können. Aber ich habe früh einen Verlag gefunden – und dann war ich im Betrieb. Erster Roman fertig, ab auf Lesereise durch die Buchhandlungen. Das ging wochenlang – abends immer im Hotel einer fremden Stadt. Schön waren manchmal die Gespräche, die sich nach der Lesung ergaben. Aber dann war man wieder allein. Schließlich der Druck, einen zweiten Roman schreiben zu müssen. Zur Buchmesse musste der fertig sein. Ich habe vier Wochen fast nicht geschlafen. Dann der Zusammenbruch – Krankenhaus – und mein Arzt meinte, das Zittern komme von der Überanstrengung und ich sollte mich schonen. Seitdem habe ich nichts mehr geschrieben. Und jetzt treffe ich Sie und sehe, dass es auch anders hätte kommen können.“

Es fing an, leicht zu regnen. Das war ein Grund mehr, die Bank zu verlassen. Es gab ein schönes Café in der Nähe.

Was man mit der Geschichte anfangen könnte

Anregungen:

Anregungen:

  1. Worum geht es in dieser Geschichte? Kann man das als Problem oder als Frage formulieren? Denk dran, dass es mehrere Möglichkeiten gibt.
    • Vorschlag 1: In der Geschichte geht es um die Frage, welche Bedeutung das Schreiben von Gedichten und Kurzgeschichten hat.
    • Vorschlag 2: In der Geschicht geht es um Frage der Vor- und Nachteile, wenn man die Texte, die man schreibt, veröffentlicht werden.
  2. Die Themafrage 1 könnte man dann mit Hilfe des Textes beantworten: „Was sagt die Geschichte aus über die Bedeutung des Schreibens von zum Beispiel Kurzgeschichten und Gedichten?“
  3. Kann man das als Schüler oder Schülerin auch schon ausprobieren? Gibt es da Erfahrungen?
  4. Auch die Themafrage 2 könnte man aus dem Text heraus klären: „Welche Vor- und Nachteile hat es, wenn man selbstgeschriebene Gedichte oder Kurzgeschichten veröffentlicht?
  5. Was ist der große Vorteil einer Veröffentlichung von Gedichten und Kurzgeschichten im Internet (auf Youtube)?
  6. Inwiefern handelt es sich um eine Kurzgeschichte?
    • Es gibt einen direkten Einstieg. Die Vorgeschichte erscheint nur zum Teil in der Geschichte selbst.
    • Es ist Ausschnitt aus dem Leben von zwei Menschen, eine Alltagsgeschichte, aber eine, die auf einen möglichen Wendepunkt hinsteuert.
    • Der Schluss ist offen: Man weiß nicht, was die beiden Männer im Café bereden und was draus wird.
  7. Wie könnte die Geschichte weitergehen?
    • Auf jeden Fall wird es zu einem Gespräch zwischen den beiden Männern kommen.
    • Zum einen könnte der „Behelfsschriftsteller“ doch die Chance der Veröffentlichung nutzen, um da eigene Erfahrungen zu machen und seine Texte auch weiter zu verbreiten.
    • Zum anderen könnte er sich aber auch von seinem Gesprächspartner überzeugen lassen, dass er besser weiter für sich schreibt, vielleicht mit seine Tochter zusammenarbeitet und so auch ein Feedback bekommt.
    • Es könnte sich auch ergeben, dass der Gesprächspartner selbst wieder mit dem Schreiben beginnt – und seine Texte vielleicht auch auf Youtube veröffentlicht werden.
    • Es könnte am Ende zu einer wunderbaren Schriftsteller-Freundschaft kommen.

Download der Kurzgeschichte mit Anregungen

Fassung nur mit Aufgaben – zum Selbst-mal-Ausprobieren
Mat1839-SF-Lars Krüsand, Späte Erkentnis

Fassung mit Lösungen
Mat1839-LF-Lars Krüsand, Späte Erkentnis