Judith Hermann, „Sommerhaus, später“ – kritische Interpretation

Judith Hermann, „Sommerhaus, später“ – kritische Interpretation einer Pflichtlektüre für das Zentralabitur

Was uns an der Erzählung reizt und was wir hier gerne leisten würden …

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir finden es sehr gut, dass im Zentralabitur 2019 in NRW immerhin mal ein Erzähltext vorkommt, der nicht schon mindestens 50 Jahre alt ist. 1998 – das hat doch etwas, auch wenn es inzwischen wieder wohl eher die Erfahrungen und Gefühle der Eltern- bzw. Lehrergeneration wiedergeben dürfte als die heutiger Schüler. Aber die sind es ja sowieso gewohnt, sich mit ihren Eltern auseinanderzusetzen – warum nicht auch auf diesem Wege. Man kann ggf. ja auch nachfragen: Mama, hattet ihr damals eigentlich so reihum Sex miteinander? Habt ihr damals auch ein Haus angesteckt, wenn das Objekt eurer Liebe nicht mit drin wohnen wollte. Ach ja – und wie war es denn so mit den Drogen damals – und wovon habt ihr gelebt. Alles spannende Fragen, auf die der literarische Text keine Antwort geben muss – aber er kann ein Gespräch zwischen den Generationen vermitteln.

Dazu wollen wir gerne ein wenig beitragen.

Deshalb stellen wir alle möglichen Vorurteile zurück und geben dem Text erst mal die Chance, sich zu äußern und uns als Leser zu erreichen.

Als Basis verwenden wir den Schroedel-Band für den Grundkurs Richtung Abitur 2019 (ISBN 978-3-507-69955-7, Braunschweig 2017)


01-11: Wie im wirklichen Leben – schon der Anfang einer Geschichte muss einen fesseln

  • Der Text fängt an wie eine Kurzgeschichte – außer dass in der Gattung konkrete Namen eher unüblich sind. Aber auf jeden Fall: ein direkter Einstieg, die Vorgeschichte wird dann erst später entwickelt. Auffällig gleich am Anfang die geringe oder auch gleich misslingende Kommunikation. Sehr schnell kommt man bei „gereizt“ (05) an. Auch das anschließende „Gerede“ (06) klingt nicht nach einer guten Gesprächsatmosphäre. Immerhin wird dann schnell aus der Erinnerung heraus deutlich gemacht, dass es sich bei diesem Haus um einen Lebenstraum handelte, bei dem man dann hinterher auch schon mal „komisch“ (10) und für andere unverständlich-fragwürdig aussehen kann. Zu denen, die für die Angelegenheit und auch die dahinter stehende Person wenig übrig haben, gehört auch die Erzählerin selbst, die diesen Stein genauso schnell „vergaß“ (11) wie sein Projekt. Von vornherein gibt es auch das Spannungsmoment, das sich in der Feststellung ausdrückt: „Das wird doch nie was.“ (10/11)
  • So, da hätten wir nun also einen Einstieg, der lapidar kurz beginnt mit einer kurzen Feststellung, sich dann fortsetzt über ein wenig erfreuliches Telefongespräch bis hin zu den Erinnerungen der Erzählerin, was diesen seltsamen Lebenstraum angeht.
  • Damit ist es Judith Hermann auf jeden Fall gelungen, Interesse auszulösen: Wer ist dieser Stein? Warum ist der so auf dieses Haus aus? Was läuft da zwischen ihm und der Erzählerin? Und warum soll da nichts draus werden?
Anmerkungen zu dem Schaubild:
  • Uns kam es zunächst einmal darauf an, die Zeitverhältnisse klarzustellen: Es gibt das „Jetzt“ der Geschichte, den Anstoß, der eine „Novelle“, eine „unerhörte Begebenheit“‚ (Goethe), also etwas, wovon man noch nicht gehört hat, auslösen kann.
  • Dann gibt es das Davor, über das wir auf eine besondere Weise aufgeklärt werden, nämlich über eine sich stückweise wieder herstellende Erinnerung, nachdem sowohl die Person wie ihr Projekt vergessen worden ist.
  • Dazu passt auch die gereizte, z.T. verständnislose oder sich erst in Richtung Verständnis entwickelnde Kommunikation.
  • Dann gibt es da noch den Gegensatz zwischen diesem Stein, der sehr motiviert und zielbewusst erscheint – und den anderen, die aus noch unbekannten Gründen nichts von dem Projekt und seiner Realisierung halten. Zu ihnen gehört offensichtlich auch die Erzählerin – und wird jetzt herausgefordert.
  • Dann gibt es da noch die Leser-Ebene: Der Leser fragt sich, ob es hier um einen Stadt-Land-Gegensatz geht bzw. einen Lebenstraum. Auch wundert er sich über die spannungsreiche Personenkonstellation und erwartet da Aufklärung. Vor allem wird er wie die Erzählerin in die „Geschichte“ im Sinne von: „Hier geschieht zunehmend etwas!“ hineingezogen.
  • Insgesamt also ein überaus gelungener Einstieg, der auf besondere Weise Interesse auslöst.

12-28: Gegensatz zwischen Begeisterung und „Nichts“, Dominanz und Passivität

  • .Interessant die Reaktion – erst mal nichts als: „Ich zündete mir mechanisch eine Zigarette an“, ein altes Rollenmuster in dieser Beziehung. Ebenso interessant auch, dass der Erzählerin immer wenig nichs einfällt, wenn Stein auftritt.
  • Das zeigt schon mal den großen Unterschied zwischen dem Romantiker und der Nihilistin. Die zeigt sich dann auch gleich in der überschäumenden Begeisterung des Hauskäufers und der abwehrenden Reaktion der Frau, die nichts tut als rumzusitzen und Zeitung zu lesen. Typisch für sie: Sie fragt nicht nach, hört aber wenigstens zu.
  • Im selben Stil geht es weiter, als Stein die Initiative ergreift und ziemlich dominant in seiner Tatkraft auftritt. Die Erzählerin nimmt das alles hin, fühlt sich nur genervt vom stürmischen Klingeln Steins, der es eilig hat.
Anmerkungen zu dem Schaubild:
  • Die Grundidee des Schaubildes ist, die Kommunikations- und Interaktionsabläufe zwischen dem überraschenden Anruf Steins und der gemeinsamen Fahrt zur Besichtigung des Hauses zu skizzieren.
  • Was dem Leser aufällt, ist der große Gegensatz zwischen Passivität und Irritation bei der Erzählerin und der großen Begeisterung und Aktionslust bei Stein.
  • Letztlich geht eine Art hinhaltender Widerstand bei der Erzählerin über in ein Sich-mitschleppen-Lassen.
  • Interessant ist das Empfinden von Steins Nachfrage, was die Erzählerin gerade tut, als „obszön“. Möglicherweise ist es ihr einfach peinlich, die Armseligkeit ihrer aktuellen Existenz im Licht der Schaffenslust Steins betrachten zu müssen.

29-58: Rückblick auf die frühere Beziehung: Die Anfänge

  • Was die Beziehung der beiden Figuren angeht, ist schon mal auffallend, dass die anderen ihr diese Bezeichnung überhaupt geben – selbst dafür ist sich die Erzählerin zu schade oder zu unsicher.
  • Auch in der Beschreibung der Beziehung zeigt sich die gleiche hinfällige Unentschlossenheit: Sie will zum Konzert, lässt es dann aber doch sein und fährt lieber mit einem Taxifahrer durch die Gegend. Sie lässt ihn dann auch noch bei sich wohnen. Erst bei der Beschreibung des Vagabunden-Daseins Stein klingt so ein bisschen was wie Anerkennung durch: „Er war nicht das, was man sich unter einem Obdachlosen vorstellt.“ (38)
  • Durchaus positiv geht es dann weiter: Bei der ersten Ausfahrt fühlt sich die Erzählerin im Kopf zwar „völlig leer“ (45), ja sogar „ausgehöhlt“ (45), aber eben auch „in einem seltsamen Schwebezustand“ (45/46), was nicht mehr negativ klingt, eben wie in einer Phase des Übergangs. Anschließend findet die Erzählerin sogar die Stalinbauten „schön“ (48), dann bekennt sie sogar, sie „würde ihn verstehen“, allerdings in einem Zustand, in dem sie aufgehört hatte „zu denken“ (50/51): Man hat hier den Eindruck, dass sie relativ entspannt ist, sich sogar wohlfühlt. Ein anderer ist es ja auch, der sie in seine Betriebsamkeit mitnimmt. Da fällt es ihr leichter, etwas anderes zu tun, als nur rumzusitzen und die Zeit totzuschlagen.
  • Bei der Beschreibung der weiteren gemeinsamen Fahrten zeigt sich auch wieder die Kreativität des Mannes, der nicht nur für jede Straße eine andere Musik hat, sondern auch gerne mal auf einen verschneiten Acker hinausläuft und dort „langsame und konzentrierte Taek-won-do-Bewegungen“ (56/57) ausführt. Bezeichnend die Reaktion der Mitfahrerin, die es sogar zu einem Lachen schafft.

59-95: Rückblick II: Nach dem Rauswurf Steins aus der Wohnung

  • Die Trennung der Erzählerin von Stein erfolgt dann genauso einfach so wie alles andere: „Irgendwann hatte ich genug.“ (59) Gründe werden nicht angegeben – man hat den Eindruck, hier folgt jemand seinen spontanen Gefühl oder irgendeiner Eingebung, aber ohne Plan oder intensives Nachdenken.
  • Interessant auch die Reaktion Steins: „Er bedankte sich und ging.“ (60/61). D.h. eine solche Entscheidung wird genauso hingenommen, wie sie getroffen wurde. Dass das völlig im Stil der Gemeinschaft der Erzählerin ist, zeigen die folgenden Zeilen, die sich auf das wechselnde Unterkommen bei anderen Mitgliedern beziehen: „Er vögelte sie alle, das ließ sich nicht vermeiden, er war ziemlich schön.“ (62/63). Hier wird wenigstens mal ein Grund angegeben, der offensichtlich ausreicht, um miteinander ins Bett zu gehen.
  • Ab Zeile 63 geht es dann um das, was diese Clique so treibt und wie Stein dazu steht: „Er war dabei. Und auch nicht. Er gehörte nicht dazu, aber aus irgendeinem Grund blieb er.“ (63-65). Was hier funktioniert, ist die Ebene der Beobachtung und einer ersten Einschätzung – mehr interessiert aber auch nicht.
  • Sehr schön die folgenden „wenn wir“-Nebensätze, die genau diese Zwischenstellung zwischen Dabeisein und Irgendwie-nicht-wirklich-Dabeisein deutlich machen. Stein macht einfach mit, vielleicht ahmt er auch etwas nach.
  • Noch interessanter wird es dann ab Zeile 70: „Und ab und an nahm ihn einer von uns mit ins Bett und ab und an sah einer zu.“ Das hat schon etwas ziemlich Animalisches, die normalen Regeln der Privatheit im intimen Bereich, also das, was eine Kultur ausmacht, sind außer Kraft gesetzt.
  • Die Erzählerin setzt sich hiervon ab. „Ich kann sagen – es war nicht meine Art.“ (72) Einen kurzen Moment schöpft man als Leser Hoffnung, dass so etwas wie Liebe im körperlichen Bereich zumindest doch anders praktiziert wird. Dann aber gleich wieder die Enttäuschung. Sie kann sich nicht mal daran erinnern, „wie das, wie also Sex mit Stein gewesen war.“ (73). Interessant hier die Selbstkorrektur, bei der der erste Zugriff sehr allgemein bleibt („das“), bevor sie sich doch aufrafft, die Sache beim Namen zu nennen.
  • Ansonsten geht die ganze Gruppe ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: „Wir saßen mit ihm da rum.“ (74) Aber das reicht jetzt nicht mehr. Erstmals kommt so etwas wie Abgrenzung, ja Aggressivität gegenüber anderen Leuten durch.  Diese Gruppe ist zumindest in der Lage zurück zu hassen (vgl. 76). Der Satz: „Den Einheimischen gingen wir aus dem Weg, schon an sie zu denken, machte alles kaputt. Es passte nicht.“ (76/77) Offensichtlich gibt es doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen angesichts eines eigenen nutzlosen Lebens in einer Welt von Menschen, die aus ihrem Leben etwas machen, zumindest für sich selbst sorgen. Die Erzählerin schiebt aber einen anderen Grund ein, nämlich eine Art Fremdenfeindlichkeit, die schon in Zeile 70 („Berliner raus!“) deutlich geworden ist. In den nächsten Sätzen wird dann klar, dass es für diese Haltung durchaus Gründe gibt, die bei der Clique liegen. Man nimmt keine Rücksicht und präsentiert sich auch ziemlich provozierend.
  • Auf jeden Fall ist sich die Erzählerin sicher: „Aber wir wollten da sein, trotz allem.“ (81). Die Mühe, etwas genauer zu erklären, warum in den Häusern allerlei abgerissen wird, macht sie sich nicht.  Aber bald stellt sich raus, dass diese Aktivitäten sowieso von Stein ausgingen – als Leser war man für einen Moment auch schon richtig erstaunt, dass diese Gruppe überhaupt irgendetwas mit Ziel macht. Umso deutlicher dann die Beschreibung der Gruppenaktivitäten: Neben Wein trinken und „blöde auf Baumgruppe“ 83) schauen spricht man über Ereignisse des Kulturbetriebs.
  • Stein ist auch hier eher ein Außenseiter. Vor allem stellt die Erzählerin fest: „Er bekam ihn nicht hin, unseren spitzfindigen, neuasthenischen, abgefuckten Blick“ (88/89). Offensichtlich steckt Stein noch so in einer einigermaßen normalen Realität, dass er diese Leute nur ansehen kann, „als ob wir auf einer Bühne agierten“ (90). Er erkennt also deutlich, dass hier ein Scheinleben geführt wird, wobei gegen die Bühne nichts einzuwenden ist – nur ist sie hier ohne ihre übliche Funktion.
  • Ab Zeile 90 gibt es dann so etwas wie eine Begegnung zwischen der Erzählerin und Stein. Plötzlich heißt es: „Es gelang ihm.  Bald erinnerte nichts mehr an die anderen.“ (93/94).  Stein gelingt es also offensichtlich, die Erzählerin in seine Welt hineinzuziehen, aber er geht wohl zu weit, es deutet sich ein Glück der Zweisamkeit an: „er lächelte jedesmal, wenn wir uns ansahen.“ (95). Das ist zu viel für die Erzählerin, ein zu großer Schritt aus dem früheren Leben hinaus, vor allem zu viel Engagement, zu viel Gefühle. Deshalb der plötzliche Abbruch: „Und das war’s.“ (95)

96: Rückkehr in die Gegenwart: Die Fahrt zum Haus

  • Wir geben hier erst mal einen vorläufigen Überblick:
  • 95/96: Interessante Überleitung von dem rückblickenden „Und das war’s“ zum aktualisierenden „Ich dachte: ‚Und das war’s.'“ Gemeint ist damit wohl: Damit haben wir beide den Punkt erreicht, an dem wir nicht mehr weiter können.
  • 96ff: Fahrt zum Haus, Teil 1:
    Beobachtungen und Gedanken
  • 106ff: Fahrt zum Haus, Teil 2:
    Heikle Frage nach den Kosten, die den unterschwelligen Konflikt zwischen Stein und der Erzählerin deutlich werden lässt:Er ist ein tatkräftiger Romantiker, der das Risiko nicht scheut. Sie ist eine in Passivität zurückgenommene Romantikerin, die die entsprechenden Gefühle letztlich bei sich immer nur gebremst zulässt.
  • Fahrt zum Haus, Teil 3:
    116ff: Zunehmende Annäherung. Die Erzählerin denkt an die „seltsame Euphorie, an die Gleichgültigkeit, an die Fremheit.“ (120) Diese Kombination ist möglicherweise auch die Ursache für das Scheitern der Sommerhauspläne. Auch Stein tut Schritte in Richtung Beziehung, die er anschließend sofort bereut. (vgl. 128/129)
  • Fahrt zum Haus, Teil 4: Hinter Angermünde: Das Abholen der Schlüssel für das Haus
    • Interessant ist hier, wie auch Stein plötzlich eine Rolle spielt bis zu dem Punkt, dass er „sein Becken elegant und obszön im Kreise“ (142/143) dreht. Auch hier sieht man an der Kommentierung durch die beiden Attribute, dass diese Erzählerin angezogen ist von diesem Stein, aber sich eine echte Beziehung mit ihm nicht vorstellen kann. Sex mit fast jedem – Liebe aber höchstens mal „später“.
  • Fahrt zum Haus, Teil 5
    • Gespräch über die Vormieter – die Erzählerin mal wieder in abgrundtiefer und menschenverachtender, vor allem in keiner Weise nachvollziehbarer Arroganz: „Die sind doch ekelhaft.“
  • Fahrt zum Haus, Teil 5
    • Auffallend, dass die Erzählerin dann aber doch anfängt, sich mit der Idee dieses Hauses anzufreunden, wenn auch nur vorsichtig, spielerisch, kindlich.
    • Auch lässt sie jetzt seine Ansätze von partnerschaftlicher Offenheit zu. Aber es bleibt dabei: Stein „weigerte sich, mich anzusehen.“ (160)
    • Stattdessen flieht er in seine romantischen Vorstellungen, die für die Erzählerin erst mal nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Aber im Hinblick auf die Dorfkirche heißt es dann doch, dass sie ihr  „schön“ vorkommt. (168)

175: Erkundung des Hauses

    • 172: Es beginnt mit einer sehr schönen Überleitung, die zeigt, dass die Erzählerin durchaus auch über Realitätssinn und Humor verfügt: „Das ist es noch fünf Minuten.“
    • 172-183: Interessant ist die erstaunlich ausführliche und detailreiche Beschreibung des Hauses durch die Erzählerin. Anscheinend kann sie genau beobachten und nimmt dieses Haus jetzt auch intensiv wahr. Am Ende kommt sie dann auch zu dem positiven Urteil: „Das Haus war schön. Es war das Haus. Und es war eine Ruine.“ Hier fällt die Differenzierung auf, sie erkennt dem Objekt einfach mehrere Betrachtungsweisen zu.
    • Neben dem Haus beobachtet sie auch weiter Stein, „erschrocken“ (185) ist sie über seinen Gesichtsausdruck, was gleich mit dem Hinweis auf sein „fieberndes Gesicht“ (187) erklärt wird. Für die Erzählerin sind hier zu viele Gefühle im Spiel, zu viel Romantik der extremen Art.
    • Im weiteren Verlauf bleibt sie zwar stellenweise „angewidert“ (193), greift dann aber doch zu seiner Hand und will „seine Berührung nicht wieder verlieren“ (196), es bleibt offen, ob grundsätzlich oder nun in der schwierigen Situation.
    • Kurz darauf ist aber doch deutlich vom „wir“ (198) die Rede, was für ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit spricht.
    • Angesichts der bald wieder überschäumenden Begeisterung Steins (201ff) fühlt sie sich wieder „nicht mehr vorhanden“ (209), geht also völlig gefühlsmäßig auf in der Situation. Dann aber wieder der Rückfall in Distanzierung: „Geh zu ihr und lass deinen Drachen steigen.“ (211) Entsprechend heftig ist die Reaktion Steins.
    • Wie groß die Schwierigkeiten der Erzählerin mit den romantischen Ausschweifungen Steins sind, zeigt sich, wenn sie ihn als „unverschämt“ (216) bezeichnet. Das heißt hier soviel wie „ohne Scham“, „ohne Rücksicht auf die aktuelle Realität“.
    • Erstaunlich ist, wie sehr Stein bei seinen Zukunftsperspektiven auch die negativen Seiten der Clique mit einbezieht: „Koks einfahren, bis dir der Schädel platzt“ (222).  Anschließend wieder das Ineinander von „wir atmeten heftig und fast im gleichen Rhythmus“ (226/7) – und dann das Misslingen eines Anflugs von Körperlichkeit.
    • Ab Zeile 229 wird deutlich, das die Erzählerin letztlich zurückhält: Was Stein entwickelt, iste zum einen „noch viel zu weit weg“ (230) für sie, zum anderen fehlt ihr die Clique, sie fühlt sich regelrecht „alleine gelassen“ (231). Es geht sogar darum, sie „vor Stein zu schützen“ (232f).
    • Letztlich bleibt sie dann auf der Ebene der Konvention, wenn sie glaubt, „irgendetwas Zukunftweisendes, Optimistisches“ (240f) sagen zu müssen. Sie ist „verwirrt“. Aber sie wünscht sich auch, „dass mich Stein noch einmal so ansehen würde, wie er mich damals angesehen hatte, und ich hasste mich dafür.“ (247-249)
    • Auf ihre Frage nach Sinn und Bedeutung des ganzen Projekts, verweist Stein nur auf Möglichkeiten, das ist der doch hin und wieder in der Realität verankerten Erzählerin zu wenig. Als sie das deutlich sagt, ist Sein wohl die Stimmung verhagelt und er will nur noch zurückfahren. Verstärkt wird das noch durch ihre Frage nach dem Kind, so ist es nicht verwunderlich, dass sie feststellen muss: „Ich wartete auf irgendetwas, auf eine Berührung, auf eine Geste.“ Außerdem passt das nicht zu ihrem Glauben: „Du wolltest doch immer mit uns sein.“ (271f). Darauf gibt es nur noch eine förmliche Dankeserklärung Steins.
    • Die Gelegenheit für eine Aussprache und Verständigung ist vertan – und zwar von beiden Seiten. Stein behält zu viele Geheimnisse für sich, drückt sich auch zu unverbindlich aus. Die Erzählerin begreift nicht, dass Stein etwas anderes will als das, was die Clique treibt.

275ff: Das Leben nach der Besichtigung des Hauses

  • 275ff: deutliche Zeichen für einen Misserfolg des gemeinsamen Besuchs mit doch-noch-Verbundenheit:
      • keine Erinnerung an die Musik auf der Rückfahrt;Erzählerin sieht Stein auch nur selten;
      • statt dessen volles Cliquenleben mit der üblichen amourösen Leichtfertigkeit,
      • allerdings 281: Die Erzählerin erträgt es nicht, dass Stein sich jetzt auch anderweitig umsieht.
      • außerdem hüten beide ihr Geheimnis
      • und die Erzählerin interessiert sich für Steins Bauarbeiten, zumindest nimmt sie die Begleiterscheinungen wahr
  • 287ff: Seltsame Toddi-Eiseinbruch-Episode zeigt die Leichtfertigkeit der Clique mit Gefahr bis hin zur Lebensgefahr – interessant ist, dass Stein und die Erzählerin gemeinsam anfangen „zu lachen“ (299). Dass das nicht ganz gesund, sondern wohl eher ein Ausdruck gemeinsamer Verzweiflungslust ist, zeigt die kritische Frage Henriettes: „Seid ihr bescheuert oder was.“ (302)
  • 303ff: Das Verschwinden Steins: Er zieht sich aus dem Cliquenleben völlig zurück. Interessant das Verhalten der Erzählerin: „Ich zuckte nicht mit den Schultern, aber ich schwieg.“ Das soll wohl bedeuten, dass sie einfach damit rechnet, dass Stein im Frühjahr mit der Restaurierung des Hauses beschäftigt ist.
  • 306ff: Dann das endgültige Aus der Gemeinsamkeit: Stein schickt Karten, die für die Erzählerin nicht genügend Einladungs-Impulse enthalten. Es bleibt offen, ob sie wirklich auf ein stärkeres Signal wartet oder nur die Hürde erhöht, um sich nicht für Stein und damit möglicherweise gegen die geliebte Clique entscheiden zu müssen.
  • 317ff: Interessant ist, dass die Katastrophe der Gemeinsamkeit nicht einmal eines eigenen Absatzes gewürdigt wird. Der letzte Brief ist gewissermaßen das letzte Ende der Kartenkette und ihr Abschluss. Bezeichnenderweise trifft die Erzählerin diese Nachricht im Bett mit einem ihrer Cliquen-Kumpel, über den sie sich in diesem Zusammenhang sehr negativ äußert – Gefühle oder gar Liebe sehen anders aus. Was ihr am Ende bleibt, ist das Eingeständnis „stumpfsinnig vor dem Herd herum“ zu stehen und nur das auch hier machen zu können, was sie immer ausgezeichnet hat: Rückzug in Passivität mit einem selbstbetrügerischen Schlückchen Hoffnung: „Später“.

Vorläufige Gesamteinschätzung der Erzählung

    • Der Titel ist mehr als treffend. „Sommerhaus“ bezieht sich auf die Träume Steins, die er für sich auch realisiert.
    • Am Ende aber zerstört er dieses Haus, weil die Erzählerin zu viel von ihm verlangt, vielleicht auch etwas, worauf er von sich aus nicht kommen kann oder will. Auf jeden Fall steht sie für das „später“ des Titels.
    • Beide Figuren sind Romantiker: Er einer der Tat, sie eine des Sich-höchstens-ein-bisschen-reinziehen-Lassens. Man könnte auch sagen: eine Romantikerin der Passivität, des Verschiebens, in gewisser Weise der Prokrastination, also des schon krankhaften Verschiebens von Aufgaben. Hilfreich kann hier etwa dieser Artikel sein.
    • Damit sind wir bei der Frage der Realität – und hier wird es ärgerlich, was die Autorin da alles so ausblendet: Es beginnt bei der Frage, wie diese Clique ihren Lebensunterhalt oder sollte man besser sagen: Drogen-Unterhalt bestreitet. Stein ist wenigstens so realitätsnah, dass er die Frage nach der Herkunft des Geldes für das Haus wenigstens zum No-go-Thema erklärt.
    • Dann die Leichtfertigkeit, mit der da die Verkehrsregeln missachtet werden. Das hat schon etwas von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ – nur dass hier auf eine schon ziemlich hässliche Weise das Leben anderer gefährdet wird.
    • Ärgerlich auf eine andere Weise ist die Frage, wie dieses Kind immer vom Flachbau zum Sommerhaus kommt und was es in der Geschichte soll. Es ist nicht ganz anständig von einem Autor, seine Fantasien auf eine Weise im Bereich der Andeutung zu belassen, womit der Leser nichts anfangen kann.
    • Das ändert aber nichts daran, dass die Geschichte wunderbar erzählt ist – zur moralischen Besserung der Leser und vor allem der Schüler mit Zentralabitur in NRW wird sie aber kaum etwas beitragen 😉 Vielleicht wird der eine oder andere Schüler aber auch eine gesunde Abwehrreaktion zeigen, wenn er die eigenen Anstrengungen in Beziehungsfragen und ihren Ertrag mit dem vergleicht, was diese Geschichte präsentiert

Idee eines Weiterschreibens der Geschichte

Es gibt den Grundsatz, dass man eine Geschichte erst vollständig verstanden hat, wenn man beim Schreiben einer Fortsetzung gescheitert ist. Denn dann hat sich ja gezeigt, dass die Geschichte rund ist, „vollkommen“.

Überlegen wir also mal, inwieweit es Möglichkeiten gibt – und inwieweit sie eine Chance haben, auf der Linie der vorhandenen Geschichte zu bestehen – durchaus auch in dem Sinne, dass noch eine Wende kommen könnte. Denn in jeder Situation steckt auch ein mehr oder weniger großes Potenzial einer anderen Situation.

Wie sind auf folgende Varianten gekommen:

  1. Stein hat jetzt kein Sommerhaus mehr, aber Sehnsucht nach Gemeinschaft und kehrt zur Clique zurück.
  2. Die Erzählerin begreift, was ihr seit Steins Weggang fehlt, und versucht, ihn in Stralsund zu treffen, was sicher schwierig ist. Vielleicht kann man ihn über die Taxi-Agentur finden.
  3. Die Erzählerin spricht doch mit den anderen über ihre „geheime“ Geschichte mit Stein – und sie erkennen, was ihnen fehlt, und versuchen, ihr eigenes „Sommerhaus“ zu finden und zu gestalten.
  4. Die Toddi-Leichtfertigkeit kostet doch noch mal Opfer – es könnte sinnvollerweise die Erzählerin treffen: Wer weiß, was sie sich im Bett von Falk geholt hat. Damit würde man ein Element aus dem Schlussteil der Erzählung aufnehmen, was immer gut ist. Wie die Erzählerin dann ihr durch Krankheit verschwindendes äußeres Leben innerlich ausgleicht, ist eine Frage für die, die diese Variante wählen.
  5. Das Kind taucht bei der Clique auf, am besten wohl mit ihrer Mutter – und da zeigt sich dann die Parallelwelt Steins, die man schon mal vermutet hat. Die Details bleiben auch hier erst mal denen überlassen, die sich an diese – viel Fantasie und erzählerisches Talent erfordernde Erweiterung machen wollen.

Weiterführende Hinweise