Kafka, „Die Verwandlung“ – Abschnitt 18: Gregors Tod und die Reaktionen darauf

18. Abschnitt: Gregors „Hinscheiden“ und die Reaktionen darauf

Wir nehmen hier den Textausschnitt als Basis, der in der Form auf der folgenden Seite zu finden ist:
https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/verwandl/verwa016.html

Überblick über den Inhalt und die wichtigsten Textstellen

  • „Kaum war er innerhalb seines Zimmers, wurde die Tür eiligst zu gedrückt festgeriegelt und versperrt. Über den plötzlichen Lärm hinter sich erschrak Gregor so, dass ihm die Beinchen einknickten. Es war die Schwester, die sich so beeilt hatte. Aufrecht war sie schon da gestanden und hatte gewartet, leichtfüßig war sie dann vorwärtsgesprungen, Gregor hatte sie gar nicht kommen hören, und ein »Endlich!« rief sie den Eltern zu, während sie den Schlüssel im Schloss umdrehte.“
    • Was Gregor sich da eben so zurecht gedacht hat, schöngefärbt hat, wird auf grausame Art und Weise mit der Wirklichkeit konfrontiert.
    • Was der Leser es schon vermutet hat, wird bestätigt, diese Familie hat nur aufgehört, Gregor ständig zu verfolgen, weil sie wissen, dass sie und wie sie ihn los werden können. Die kleine Lösung praktiziert die Schwester schon und sie ist sich auch nicht zu schade dafür, ihr Denken und ihre Gefühle ohne Rücksicht auf den Bruder rauszuhauen.
  • Gregor macht „bald die Entdeckung, dass er sich nun überhaupt nicht mehr rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihm unnatürlich vor, dass er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen Beinchen hatte fortbewegen können. Im übrigen fühlte er sich verhältnismäßig behaglich. Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden sie allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen.“
    • Hier wird deutlich, wie aus der Verwandlung am Anfang eine Schlussphase des Vergehens wird.
    • Bezeichnend ist die innere Reaktion darauf, Gregor nimmt das an. Das macht noch mal überdeutlich, wie ungesund sein Zustand vor der Verwandlung gewesen ist.
  • „An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener, als die seiner Schwester.“
    • Hier wird es ganz heftig und streift die Satiregrenze.
    • Denn das, was er hier denkt und fühlt, steht im schreienden Gegensatz zur Realität.
  • „In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor.“
    • Interessant sind die Attribute des „Nachdenkens“: „leer“ und „friedlich“ – das ist die komplette Selbsteingliederung in eine Art Nichts.
    • Man wird unweigerlich an den Buddhismus erinnert und sein Nirwana. Die Frage ist nur, ob der Weg bis zu diesem Zustand das ist, was Buddha seinen Nachfolgern geraten hat. Wäre eine schöne Frage an den Religionsunterricht.
    •  Wenn man den Ausgang der Erzählung noch nicht kennt, kann hier schon Zorn angesichts von so viel Selbst-Missachtung aufkommen.
    • Wenn man dann allerdings weiterliest, dann wird deutlich, dass Gregor selbst dafür sorgen muss und das auch tut, dass seine letzten Momente in seinem Leben nicht nur von Verzweiflung und anderen negativen Gefühlen geprägt sind.
    • Angesichts des offensichtlichen Sterbeprozesses ist es letztlich auch gleichgültig, ob er sich hier noch etwas schönredet oder nicht. Es überwiegt das Mitgefühl mit diesem Menschen, der auch seine Chance gehabt hat, der aber fast ständig falsch abgebogen ist – und am Ende auch das nicht bekommen hat, was ein Mensch in dieser Situation am meisten braucht, nämlich Hilfe.
    • Wir haben in der Überschrift nicht von Tod, sondern von „Hinscheiden“ gesprochen, lieber wäre uns noch „Vergehen“ im Sinne von „das Leben vergeht“ gewesen, aber das hätte missverstanden werden können.
    • Vielleicht könnte man von Gregors „Ver-Gehen“ sprechen, das aber möglicherweise auch ein „Vergehen“ ist, nämlich gegen sich selbst und sein Recht auf ein eigenes, selbstbestimmtes Leben.
  • Die alte Bedienerin macht erst ihre üblichen Spielchen mit dem schwachen Wesen, dann:
    „Als sie bald den wahren Sachverhalt erkannte, machte sie große Augen, pfiff vor sich hin, hielt sich aber nicht lange auf, sondern riß die Tür des Schlafzimmers auf und rief mit lauter Stimme in das Dunkel hinein: »Sehen Sie nur mal an, es ist krepiert; da liegt es, ganz und gar krepiert!«“

    • Um jetzt mal auf der Ebene der empathischen Betrachtung zu bleiben, kann man nur froh sein, dass Gregor diese letzte Demütigung nicht mehr erlebt. Was jetzt an Schändlichkeit noch passiert, fällt nur noch auf die anderen zurück. Gregor ist dafür nicht mehr erreichbar.
    • Bezeichnend ist nicht nur die absolute Kaltschnäuzigkeit dieser Frau, sondern auch die Aufnahme der Perspektive der Schwester, so dass sich der Kreis des Inhumanen  hier noch erweitert hat.
    • Man ahnt aber schon, dass diese negative Haltung gegenüber allem Menschlichen auch den Rest der Familie erreichen kann. Ansatzweise geschieht das ja bereits durch das Verhalten der Bedienerin.
  • „Das Ehepaar Samsa saß im Ehebett aufrecht da und hatte zu tun, den Schrecken über die Bedienerin zu verwinden, ehe es dazu kam, ihre Meldung aufzufassen.
  • Dann aber stiegen Herr und Frau Samsa, jeder auf seiner Seite, eiligst aus dem Bett […]»Tot?« sagte Frau Samsa und sah fragend zur Bedienerin auf, trotzdem sie doch alles selbst prüfen und sogar ohne Prüfung erkennen konnte. »Das will ich meinen«, sagte die Bedienerin und stieß zum Beweis Gregors Leiche mit dem Besen noch ein großes Stück seitwärts. Frau Samsa machte eine Bewegung, als wolle sie den Besen zurückhalten, tat es aber nicht. »Nun«, sagte Herr Samsa, »jetzt können wir Gott danken.« Er bekreuzte sich, und die drei Frauen folgten seinem Beispiel.“
    •  Schon der erste Satz gibt ein wichtiges Signal, dass es sich bei diesem Mann und dieser Frau nicht mehr um Eltern handelt, sondern um ein Ehepaar.
    • Allerdings gibt es bei Frau Samsa dann doch noch einen Rest an mütterlicher Beziehung, aus dem aber nicht viel wird. Am Ende schließt sie sich der gemeinsamen Bekreuzigung an.
    • Am heftigsten ist mal wieder der Vater, der nicht im geringsten an den toten Sohn denkt, sondern nur an seine Befreiung, für die er sogar die Frechheit besitzt Gott zu danken.
    • Bei der Schwester wäre zu überlegen, warum sie die ganze Nacht über angezogen geblieben ist. Vielleicht ist es auch ein Zeichen dafür, dass sie ähnlich wie der Vater auf die Erlösung aus ihrer Situation wartet, es vielleicht gar nicht mehr erwarten kann.
  • „Grete, die kein Auge von der Leiche wendete, sagte: »Seht nur, wie mager er war. Er hat ja auch schon so lange Zeit nichts gegessen. So wie die Speisen hereinkamen, sind sie wieder hinausgekommen.« Tatsächlich war Gregors Körper vollständig flach und trocken, man erkannte das eigentlich erst jetzt, da er nicht mehr von den Beinchen gehoben war und auch sonst nichts den Blick ablenkte.“
    • Hier wird noch einmal deutlich, wie wenig man sich um Gregor und seinen Gesundheitszustand gekümmert hat.
  • „»Komm, Grete, auf ein Weilchen zu uns herein«, sagte Frau Samsa mit einem wehmütigen Lächeln, und Grete ging, nicht ohne nach der Leiche zurückzusehen, hinter den Eltern in das Schlafzimmer. Die Bedienerin schloss die Tür und öffnete gänzlich das Fenster. Trotz des frühen Morgens war der frischen Luft schon etwas Lauigkeit beigemischt. Es war eben schon Ende März.“
    • Hier sieht man, dass Grete jetzt für die Mutter eine besondere Rolle spielt, denn ihr werden jetzt alle mütterlichen Gefühle zugewendet. Wie das „wehmütig“ hier aufzufassen ist, wäre zu überlegen. Möglicherweise bedauert sie sich selbst mehr als den toten Sohn.
    • Ansonsten gibt es hier ein erstes Signal für Aufschwung, wenn vom Frühling die Rede ist und frische Luft herein gelassen wird. Schade, dass der Sohn davon nichts mehr hat. Aber das interessiert hier keinen mehr.
  • „Aus ihrem Zimmer traten die drei Zimmerherren und sahen sich erstaunt nach ihrem Frühstück um; man hatte sie vergessen. »Wo ist das Frühstück?« fragte der mittlere der Herren mürrisch die Bedienerin. Diese aber legte den Finger an den Mund und winkte dann hastig und schweigend den Herren zu, sie möchten in Gregors Zimmer kommen. Sie kamen auch und standen dann, die Hände in den Taschen ihrer etwas abgenutzten Röckchen, in dem nun schon ganz hellen Zimmer um Gregors Leiche herum.“
    • Interessant ist hier, dass die Familie selbst sich in dieser heiklen Situation um nichts mehr kümmert. Es ist die Bedienerin, die hier das Kommando übernimmt und sich nicht scheut, das fremden Leuten zu präsentieren, was eigentlich nur die Familie etwas angeht.
    • Zu überlegen wäre, ob der Hinweis auf die abgenutzten Röckchen der drei Zimmerherren nicht ein kritisches Signal in ihre Richtung und die ihrer Lebensweise ist. Vor diesem Hintergrund könnte man die Helligkeit, in der Gregors Leiche jetzt liegt, möglicherweise auch positiver sehen. Er hat einen Ort gefunden, an dem er weder sich selbst peinigen kann noch von anderen bedrückt werden kann.
  • Auch ein Zeichen für eine Verwandlung ist, wie Herr Samsa sich jetzt gegenüber den drei Zimmerherren verhält:
    „»Verlassen Sie sofort meine Wohnung!« sagte Herr Samsa und zeigte auf die Tür, ohne die Frauen von sich zu lassen. »Wie meinen Sie das?« sagte der mittlere der Herren etwas bestürzt und lächelte süßlich. Die zwei anderen hielten die Hände auf dem Rücken und rieben sie ununterbrochen aneinander, wie in freudiger Erwartung eines großen Streites, der aber für sie günstig ausfallen musste. »Ich meine es genau so, wie ich es sage«, antwortete Herr Samsa und ging in einer Linie mit seinen zwei Begleiterinnen auf den Zimmerherrn zu. Dieser stand zuerst still da und sah zu Boden, als ob sich die Dinge in seinem Kopf zu einer neuen Ordnung zusammenstellten. »Dann gehen wir also«, sagte er dann und sah zu Herrn Samsa auf, als verlange er in einer plötzlich ihn überkommenden Demut sogar für diesen Entschluß eine neue Genehmigung. Herr Samsa nickte ihm bloß mehrmals kurz mit großen Augen zu.“
    • Deutlich wird hier, dass auch andere Verhaltensweisen möglich gewesen wären, als sie von der Familie gezeigt werden. Es gibt zwar keinen Grund für den Vater, jetzt plötzlich herrisch aufzutreten, aber in gewisser Weise gibt es jetzt eine nachträgliche, eine Post-mortem-Genugtuung für den toten Gregor zumindest an einer Stelle, nämlich im Hinblick auf die Arroganz  der drei Zimmerherren.
  • Dass da ein Fleischergeselle mit einer Trage heraufkommt, wird nicht weiter erklärt. Es passt aber zu der Behandlung Gregors in der letzten Phase seines Lebens. Er wird nicht mehr als Mensch betrachtet, sondern als ein Stück Fleisch, das dem Tierreich zugeordnet wird. Damit schließt sich der Kreis, der mit dem ersten Satz der Erzählung aufgemacht worden ist.

Weiterführende Hinweise