Lars Krüsand, „Den Stier bei den Hörnern packen“

Die folgende Kurzgeschichte kann deutlich machen, wie man sich mit geschicktem Verhalten und einem selbstbewussten Auftreten aus einer unangenehmen Kommunikationssituation befreien kann.

Sie stammt von einem kreativen Deutschlehrer-Kollegen, der mal auf diesem Wege zeigen wollte, wie es gehen könnte 😉

Lars Krüsand

den Stier bei den Hörnern packen

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Er hatte kein gutes Gefühl dabei, aber es hatte sein müssen. Eine Fünf auf dem Halbjahreszeugnis in Deutsch war schließlich keine gute Versicherungspolice für das zweite Halbjahr. Und er würde sicherlich wieder am Ende eine Drei brauchen, um ein mögliches Mangelhaft in einem anderen Hauptfach auszugleichen.

Also hat er sich mit seiner Tante, einer inzwischen pensionierten und nicht ganz stromlinienförmigen Deutschlehrerin, zusammengesetzt und überlegt, wie er einigermaßen komfortabel den Kopf aus der Schlinge ziehen könnte.

Sie hatte ihm als ersten Schritt zur Besserung empfohlen, eine offensichtlich unsinnige Hausaufgabe wie das Abschreiben eines Textkastens mit Hinweisen zum Umgang mit Sachtexten einfach mal intelligent und vielleicht auch ein bisschen kreativ abzuwandeln.

Vor allem aber hatte sie ihm den Tipp gegeben, den Stier bei den Hörnern zu packen. Das hat er nicht gleich verstanden, schließlich war er kein Freund des spanischen Stierkampfes. Aber sie hatte ihm dann erklärt, wie wichtig das sei, das Publikum – und das seien nun mal bei einem Vortrag vor der Klasse seine Mitschüler – erst mal positiv für sich einzunehmen.

„Präsentier dich doch einfach als reuiger Sünder … allerdings nur der Not gehorchend, nicht dem freien Triebe.“ Das war so eine ihrer Ausflüge in die Sprache von Goethe und Schiller. Aber damit hatte er sich inzwischen abgefunden. Sie hatte das dann doch noch ein bisschen präzisiert. Wichtig sei, dass seine Mitschüler nicht so richtig wüssten, woran sie bei ihm seien. Das würde Spannung erzeugen und die wäre eine gute Grundlage für einen erfolgreichen Auftritt.

So hat er dann auch begonnen und hatte es bald schon geschafft, seinen Mitschülern klarzumachen, wie sehr sie von seiner Verhaltensänderung hin zum engagierten Schüler ja letztlich auch profitierten. Mindestens zehn oder 15 Minuten, in denen man selbst nicht drankommen konnte. Niemand wurde während seines Vortrags nach seiner Hausaufgabe gefragt und eine Wiederholung der letzten Stunde gab es auch nicht. Und alles das nur, weil er einfach mal ein paar Informationen weitergab, die er auch noch von seiner Tante bekommen hatte. Sie war eben nicht stromlinienförmig gewesen und so war sie immer auf Ideen gekommen, die bei ihren Kolleginnen und Kollegen nur Kopfschütteln hervorgerufen hatten.

Er solle – das war ihr Ratschlag – doch einfach auf ein paar Dinge hinweisen, die in den Deutschbüchern in der Regel nicht gefunden wurden. Dazu gehörte zum Beispiel, dass Sachtexte nichts mit Sachlichkeit zu tun haben mussten. Hier hatte er während seines Vortrags gemerkt, dass bei einigen seiner Mitschüler eine Welt zusammenbrach. Das schien ihnen so selbstverständlich. Deutsch war eben ein Fach, in dem man sich viel ganz einfach aus den Begriffen zusammenreimen konnte – ohne viel lernen zu müssen – wie etwa in Biologie oder Chemie. Und mit dem Selbst-Beobachten und Nachdenken hatten die meisten es nicht so. So sahen sie zwar eine Mitschülerin, die heulend vor ihrem Smartphone saß und immer wieder nur stammelte: „Aber wir hatten doch“ und „Wie kannst du nur …“ „Hast du denn gar kein Verständnis …“ Aber sie kamen nicht auf den Gedanken, dass selbst das im Deutschunterricht zu den Sachtexten gezählt worden wäre – auch wenn das mühsam Herausgepresste nicht sehr sachlich klang, sondern hochemotional.

Oder der Hinweis, dass bei einem Sachttext die Absicht des Autors zwar der Ausgangspunkt war, nicht aber unbedingt das Ergebnis dessen, was da wirklich zusammengeschrieben worden war. Auch hier großes Erstaunen, diesmal war auch Dr. Engers, ihr Deutschlehrer, etwas zusammengezuckt. Wie er hinterher gestand, war er an dieser Stelle doch sehr auf eine Erklärung gespannt gewesen. Glücklicherweise hatte seine Tante ihn auch für diese Herausforderung bestens gerüstet, indem sie ihm erzählte, wie sie ihrer Tochter mal nach einem kurzen Blick in deren Zimmer gesagt hatte: „Marlene, du könntest auch mal wieder aufräumen.“ Darauf war eine Antwort gekommen, an der sie immer noch etwas zu arbeiten hatte: „Ach, Mama, ich lieb dich auch.“ Das hieß auf gut Deutsch: Ihre Absicht, der jungen Dame mal den Marsch zu blasen und sie zu etwas sozialverträglicherem Nutzung des Hauses zu veranlassen, war elegant ins Gegenteil verkehrt worden, nämlich in eine Liebeserklärung, auf die man unmöglich mit einer erneuten Arbeitsanweisung antworten konnte.

So ähnlich ging es dann weiter, bis es ganz plötzlich schellte. Und dann stellte sich heraus, dass er auch mit einer anderen Vorvorhersage recht gehabt hatte: Seine Mitschüler sprangen nicht etwa auf, erleichtert und voller Lust auf Pause, sondern sie blieben sitzen, schauten ihn an, bis Ina schließlich fragte: „Wie hast du das denn gemacht? Wie hast du es geschafft, dass wir vergessen haben, dass wir auf die Pause warten wollten wie immer?“ Er hatte daraufhin nur geantwortet: „Tja, man muss halt den Stier bei den Hörnern packen.“ Und dieser für die anderen rätselhafte Satz hatte ihm für den Rest des Schuljahres die Bahn geebnet für eine völlig neue Rolle – irgendwo in der Mitte zwischen eleganter Anpassung und nachdrücklicher Betonung des Eigensinns.


Zu dieser Kurzgeschichte gibt es auch ein Video, in dem das gleiche Problem allerdings eher aus der Ratgeberperspektive behandelt wird:

 

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