Stefan George, „Rückkehr“

Stefan George

Rückkehr

  • [Erwartungsspielräume des Titels / Erwartungen, die der Titel auslösen kann]
  • Die Überschrift des Gedichtes ist sehr allgemein gehalten.
  • Auf jeden Fall kehrt jemand zurück oder geht es allgemein um das Phänomen.
  • Offen bleibt, woher man kommt und ob es sich um eine glückliche oder eher unglückliche Rückkehr handelt.

01 Ich fahre heim auf reichem kahne –

02 Das ziel erwacht im abendrot –

03 Vom maste weht die weisse fahne –

04 Wir übereilen manches boot.

  • [Strophe 1: Klärung der Situation einer wohl glücklichen Heimkehr]
  • Die erste Strophe schafft Klarheit: Es ist das lyrische Ich, das heimkehrt
  • Und das „auf reichem Kahne“, also offensichtlich mit Wohlstand oder auch Glück an Bord.
  • Die Zeilen I,2-4 sprechen dann kurz verschiedene Eindrücke an: Das Ziel gerät in den Blick und zugleich sorgt das Abendrot wohl für eine zusätzlich gute Stimmung.
  • Warum vom Mast eine weiße Fahne weht, bleibt erst mal unklar.
  • Wer es zufällig weiß, kann auf die griechische Sage von dem heimkehrenden Theseus verweisen, der aus Versehen nicht weiße Segel einer glücklichen Heimkehr hisste, sondern schwarze des Unglücks hängen ließ. Das wiederum löste erst großes Unglück aus. Tragik pur.

05 Die alten ufer und gebäude

06 Die alten glocken neu mir sind –

07 Mit der verheissung neuer freude

08 Bereden mich die winde lind.

  • [Strophe 2: Verstärkung des Eindrucks einer glücklichen Heimkehr]
  • Die Zeilen 04 und 06 zeigen, dass hier nicht nur das „Ziel erwacht“ (02),
  • Sondern dass all das, was dort zu sehen und bei den „glocken“ möglicherweise auch zu hören ist, dem lyrischen „neu“ ist.
  • Die Zeilen 07 und 08 gehen dann noch einen Schritt weiter und beschreiben die „freude“, die angesichts dieser Situation gewissermaßen in der Luft liegt, die Atmosphäre prägt.
  • Etwas skeptisch kann der Leser im hermeneutischen Prozess und bei genauem Lesen werden, wenn von „Bereden“ die Rede ist. Das könnte nämlich auch bedeuten, dass es sich möglicherweise nur um einen schönen Schein handelt.
  • Es kann sich in diesem Zusammenhang aber auch um eine völlig harmlose Wendung handeln, die nichts anderes ausdrücken soll als: „sagen mir die winde lind“.

Da taucht aus grünen wogenkämmen

Ein wort – ein rosenes gesicht :

Du wohntest lang bei fremden stämmen –

Doch unsre liebe starb dir nicht.

  • [Strophe 3: Vertiefung des Eindrucks von „neuer Freude“ zu noch vorhandener alter „liebe“]
  • Wenn man vorsichtig gestimmt ist durch das „Bereden“ könnte das „Da“ den Leser zusätzlich ein wenig erschrecken.
  • Es zeigt sich aber schnell, dass kein Ungeheuer sich aus den „wogenkämmen“ erhebt, sondern ein „rosenes gesicht“, wohl ein Zeichen von Schönheit und Liebe.
  • Das wird mit einem „wort“ verbunden, was hier aber ein ganzer Satz ist.
  • Der signalisiert dem lyrischen Ich das, was wohl in ihm schon als Gewissheit vorhanden ist:
  • Dass es zwar „lang bei fremden stämmen“ gelebt hat,
  • Dass aber „unsre Liebe“ „dir“, also ihm nicht gestorben ist.
  • Hier bleibt erst mal unklar, ob diese Liebe sich auf eine Person richtet oder auf den Ort, die Welt, in die das lyrische Ich zurückkehrt.
  • Das ist wahrscheinlicher, weil es vorher um äußere Eindrücke gegangen ist, bei denen Menschen keine Rolle spielten.

Du fuhrest aus im morgengrauen

Und als ob einen tag nur fern

Begrüssen dich die wellenfrauen

Die ufer und der erste stern.

  • [Strophe 4: Rückblick auf die Reise und abschließende Einschätzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft]
  • Die letzte Strophe kann als Fortsetzung des Wortes aus den Wellen gesehen werden,
  • Aber auch als Übergang zu einem inneren Monolog.
  • Da es sich inzwischen aber um „unsere liebe“ handelt, ist das letztlich gleich und kann sogar als wunderschönes künstlerisches Mittel angesehen werden, das den Übergang von zeitweise erzwungener Distanz zur Wiederaufnahme alter Nähe und Gemeinsamkeit deutlich werden lässt.
  • Letzteres wird eindrucksvoll unterstrichen durch das „als ob einen tag nur fern“.
  • Was genau es mit den „wellenfrauen“ auf sich hat, bleibt wieder offen. Auch hier liegt es nahe, das Naturphänomen der Wellen verbunden zu sehen, mit dem, was reine Männergesellschaften früherer Zeiten an Wärme, Harmonie und Liebe zu Hause erwarten konnte.
  • Die letzte Zeile setzt dann noch einen besonderen Akzent, indem sie das nahe liegende „ufer“ verbindet mit einem ersten „stern“.
  • Das kann man als Zeichen für weiteres Glück ansehen, was dann der Rückkehr eine deutliche Steigerung verleihen würde – von der ersten hin zur letzten Zeile.

 

[Aussagepotenzial des Gedichtes – Intentionalität]

Das Gedicht zeigt:

  1. Eine glückliche Heimkehr nach erfolgreicher Reise,
  2. Die Kombination von erneuter Wahrnehmung und Reaktivierung noch vorhandener Gefühle
  3. Anzeichen für eine glückliche Zukunft

 

Sprachlich-künstlerische Unterstützung der Aussagen

  1. Personifizierungen
    1. des Ziels, also der Heimat in „erwacht“ (I,2)
    2. Des Wassers in III,2
    3. Die Winde in II,4
    4. „wellenfrauen“ in IV,3
  2. Reihung in II, 1 und 2
  3. Antithesen
    1. in II,2
    2. Und in III,3/4
  4. In II,2 zugleich auch Inversion, die die Bedeutung der Zeile unterstreicht
  5. Vergleich in IV,2
  6. „wellenfrauen“: Metapher und zugleich Neologismus in IV,3
  7. Steigerung von „reichem kahne“ zu „der erste Stern“ mit verschiedenen inhaltlichen Zwischenstufen
  8. Symbol und par pro toto „stern“ in IV,4