Heiner Müller, „FAHRT NACH PLOVDIV. Straße der Kreuzfahrer“

Im Folgenden geht es um ein sehr ungewöhnliches Gedicht, das man eigentlich nur versteht, wenn man es als Teil eines Beitrags zur Frankfurter Anthologie versteht.

Zu finden ist beides auf dieser Seite.

Wir lassen die begleitenden Ausführungen von Jan Volker Röhnert erst mal beiseite und versuchen uns dem Gedicht direkt zu nähern.

  1. Das erste Wort muss man recherchieren, das „Hier“ macht deutlich, dass es sich um einen Ortsnamen handelt. Wikipedia hilft weiter:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Mariza
  2. Im ersten Schritt wird auf eine griechische Sage verwiesen, was den Leser zwingt (falls er sich damit nicht auskennt, was für viele Schüler gelten dürfte), auch hier erst mal wieder zu recherchieren. Auch hier hilft Wikipedia weiter:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Orpheus
    Auch ohne diese Kenntnisse erkennt man, dass es hier um brutale Gewalt geht.
  3. Dann geht es um die aktuelle Situation dieses Flusses – offensichtlich ist das Lyrische Ich unterwegs, schaut sich um und fügt seine Einfälle dazu hinzu.
  4. Dann geht es – ausgehend von Gräbern – um den Kommunismus als „Befreier der Lebendigen und der Toten“. Ausgehend vom letzten Wort wird man bedenklich, das könnte Satire sein.
  5. Dann wird mehreres eng verbunden und zu dem Ergebnis zusammengefasst: „Geschichte: hungriger Leichnam“. Das kann man so verstehen, dass Geschichte zwar vorbei ist, aber immer noch Hunger hat – möglicherweise auf weitere Leichen.
  6. Das wird dann in der Zeile mit „Gestern“ und „Morgen“ in ein Bild gefasst.
  7. Dann greift das lyrische Ich noch mal auf Orpheus zurück und wirft ihm anscheinend vor, dass seine Lieder nicht vom „Pflug“ gesprochen haben, also einem Gerät, das letztlich das Überleben sichert, positiv wirkt.
  8. Der nächste Einfall bezieht sich auf Alexander den Großen, an den in dem Ort nicht erinnert wird. Seine Idee, den Knoten einfach zu zerhauen, wird sehr negativ eingeschätzt. Das kann man auch anders sehen.
  9. Am Ende versucht das lyrische Ich noch zu etwas Positivem zu kommen: Als glücklich wird ein Volk bezeichnet, das „seine Toten begräbt“ und sich auf die „Umarmung aus den Gräbern“ nicht einlässt, d.h. aus altem Unrecht kein neues entstehen lässt.
  10. Den Schluss bildet dann die Unterscheidung zwischen wohl echten Helden der Gegenwart und dem Staub derer, die tot sind und um die man nicht mehr weinen sollte.

Das Gedicht zeigt

  1. wie ein Reisender sich von einem Ort anregen lassen kann, sein eigenes Bildungswissen hervorzuholen und
  2. daraus etwas Allgemeines abzuleiten, nämlich:
    1. eine durchaus negative Einstellung gegenüber historischen Größen – von Orpheus bis zu Alexander
    2. vor allem aber eine Kritik eines Vorgangs, bei dem das eigentlich schon Tote immer wieder negativ auf die Gegenwart einwirkt,
    3. und das Lob wirklicher Helden der Gegenwart, die zum Beispiel mit dem „Pflug“ für Lebensmittel sorgen.
  3. Insgesamt ein Gedicht, das Geschichte eher negativ sieht und sich für die Bewältigung von Gegenwartsaufgaben einsetzt.
  4. Wenn man den Titel mit einbezieht, dann stehen die „Kreuzfahrer“ wohl für alle die, die das angebliche bzw. konstruierte Leiden an der Vergangenheit (Jerusalem als Ort Christi, der nicht in den Händen der Muslime bleiben darf) nutzen, um Leiden in ihrer Gegenwart erzeugen. Man denke an die abgründigen Grausamkeiten bei der Rückeroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Jahre 1099.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Belagerung_von_Jerusalem_(1099)#Der_Sturm_und_das_Massaker
  5. Wenn man es als Reisegedicht versteht, dann lädt es eigentlich zur Nachahmung ein. Man muss deswegen ja gar nicht viel Wissen um die Antike bemühen. Es geht einfach darum, sich von dem, was man vorfindet, anregen zu lassen zu einer eigenen Meinung, die durchaus kritisch sein kann.

Weiterführende Hinweise