Zum Vergleich von zwei Eichendorff-Gedichten
Was das erste Gedicht angeht, so greifen wir auf eine Interpretation zurück, die wir an anderer Stelle schon mal veröffentlicht haben:
https://wvm.schnell-durchblicken3.de/vergleich-eichendorff-ringlein-werfel-blick-begegnung/
Eichendorff, „Das zerbrochene Ringlein“
Joseph von Eichendorff
Das zerbrochene Ringlein
In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad,
Mein Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.
- Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung eines Verlustes, der mit einem ganz bestimmten Ort verbunden ist.
Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.
- Die zweite Strophe bringt dann den maximalen Kontrast zwischen dem Versprechen der Treue und dem Bruch, verbunden mit dem Symbol des Rings, der auch zerstört ist.
Ich möcht als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.
- Was macht der Romantiker, wenn er in Not kommt: Er flieht hinaus und hofft dort als Spielmann wahrscheinlich, seine innere Not loszuwerden.
- Interessant die Wiederaufnahme des Motivs der Wohnung, diesmal aber geht es nicht mehr um eine direkt oder indirekt eigene (der Liebsten), sondern um andere Menschen, von deren möglicherweise noch vorhandenem Glück man gewissermaßen nur ein bisschen was abbekommt.
Ich möcht als Reiter fliegen
Wohl in die blutge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.
- Einige Romantiker gehen dann noch einen Schritt weiter: Sie schreien oder zumindest singen ihre Qual nicht nur hinaus (man wird an das Wort von Goethes Tasso erinnert: „Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide„,
- sondern suchen auch die existenzielle Herausforderung bis hin zur Gefahr des Todes.Hör ich das Mühlrad gehen:
Ich weiß nicht, was ich will –
Ich möcht am liebsten sterben,
Da wärs auf einmal still! - Die letzte Strophe macht diesen Zusammenhang dann auch ganz deutlich,
- wobei das Mühlrad die quälende Verbindung von Glück und Verlust immer wieder in Erinnerung ruft.
Zum Vergleich: Joseph von Eichendorff, „Jahrmarkt“
01 Sind’s die Häuser, sind’s die Gassen?
02 Ach, ich weiß nicht, wo ich bin!
03 Hab ein Liebchen hier gelassen,
04 Und manch Jahr ging seitdem hin.
- Im Unterschied zum ersten Gedicht ist hier nicht die Liebste „verschwunden“, sondern das Lyrische Ich hat hier „ein Liebchen“ zurück“gelassen“.
- Außerdem ist seitdem einige Zeit vergangen, es gibt also mit Sicherheit nicht mehr den Schmerz, der das erste Gedicht auszeichnet.
05 Aus den Fenstern schöne Frauen
06 Sehn mir freundlich ins Gesicht,
07 Keine kann so frischlich schauen,
08 Als mein liebes Liebchen sicht.
- Die zweite Strophe macht dann deutlich, dass es durchaus noch eine Bindung gibt, die etwas mit „frischlich“ zu tun hat.
- Es geht anscheinend eher um Äußeres als um tiefe Liebe.
09 An dem Hause poch ich bange –
10 Doch die Fenster stehen leer,
11 Ausgezogen ist sie lange,
12 Und es kennt mich keiner mehr.
- Die dritte Strophe zeigt dann jemanden, der vergeblich versucht heimzukehren.
- Weder ist das „Liebchen“ noch da
- noch wird er überhaupt von jemandem erkannt.
- Man hat hier den Eindruck, dass es weniger um Liebe als um entstandene Fremdheit geht, wie es von Eichendorff auch gestaltet wird.
https://www.schnell-durchblicken2.de/eichendorff-rueckkehr
13 Und ringsum ein Rufen, Handeln,
14 Schmucke Waren, bunter Schein,
15 Herrn und Damen gehn und wandeln
16 Zwischendurch in bunten Reihn.
- Hier geht es im Kontrast dazu um allgemeine Fröhlichkeit.
17 Zierlich Bücken, freundlich Blicken,
18 Manches flücht’ge Liebeswort,
19 Händedrücken, heimlich Nicken
20 Nimmt sie all der Strom mit fort.
- Diese Fröhlichkeit hat auch viel mit den Beziehungen zwischen den Menschen zu tun – vor allem im Hinblick auf das eine oder andere „Liebeswort“.
21 Und mein Liebchen sah ich eben
22 Traurig in dem lust’gen Schwarm,
23 Und ein schöner Herr daneben
24 Führt sie stolz und ernst am Arm.
- In diesem fröhlichen Gewimmel sieht das lyrische Ich nun plötzlich sein ehemaliges „Liebchen“.
- Der vorher schon deutliche Kontrast wird jetzt in dieses Paar hineingelegt: Ein schöner und stolzer Herr – und daneben eine traurige Frau.
25 Doch verblasst war Mund und Wange,
26 Und gebrochen war ihr Blick,
27 Seltsam schaut‘ sie stumm und lange,
28 Lange noch auf mich zurück. –
- Dann eine genauere Beschreibung dieses trauernden Wesens,
- woraus am Ende doch eine kurze Begegnung wird – zwischen einer eindeutig Unglücklichen
- und einem lyrischen Ich, bei dem man nicht so genau weiß, was es eigentlich noch an diesen Menschen bindet.
29 Und es endet Tag und Scherzen,
30 Durch die Gassen pfeift der Wind –
31 Keiner weiß, wie unsre Herzen
32 Tief von Schmerz zerrissen sind.
- Das wird am Ende aber doch klarer, denn das lyrische Ich bezieht sich in diesen Schmerz mit ein.
- Letztlich muss man dann doch wohl annehmen, dass hier zwei Menschen unglücklicherweise auseinandergeraten sind.
- Die eine muss nun das Glück einer Beziehungsnormalität bei jemandem suchen, den sie nicht liebt.
- Der andere ist zumindest auf der Suche und hat noch nichts Vergleichbares wieder gefunden.
Vergleich
- In dem Mühlenrad-Gedicht geht es ganz eindeutig um einen Liebesverrat, auch wenn der offen präsentiert worden ist. Die Trennung wird so empfunden.
- Dementsprechend tief ist der Schmerz beim verlassenen Partner, der bis zur Todessehnsucht geht.
- Im Jahrmarkt-Gedicht dagegen hat es eine Trennung gegeben, die nicht als Verrat empfunden wird, sondern als etwas, das eben passiert ist. Es bleibt offen, von wem das ausging – auf jeden Fall ist das lyrische Ich dann gegangen.
- Bald wird klar, dass immer noch eine Bindung da ist, auch wenn sie sehr zurückhaltend benannt wird („frischlich schauen“).
- Es zeigt sich dann bei der Rückkehr, dass auch die damalige Partnerin nicht da geblieben ist und das lyrische Ich selbst vergessen worden ist.
- Der Schlussteil des Gedichtes gestaltet dann den Gegensatz zwischen der Normalität des Beziehungsglücks der anderen (ganz gleich, auf welchem Level) und dem offensichtlichen Leiden des Liebchens in einer wohl mehr oder wengier aufgezwungenen, aber nicht gelebten neuen Beziehung.
- Dies führt dann offensichtlich zu einem erneuten Aufbruch auch der Liebessehn sucht des lyrischen Ichs – nach dem Motto: Ich habe Sehnsucht und du bist unglücklich – was ist das für ein schreckliches Schicksal.
- Allgemein kann man den Vergleich auf die Formel bringen:
- Ringlein-Gedicht: Verlassenwerden, was als Verrat empfunden wird, und Schmerz bis hin zur Todessehnsucht
- Jahrmarkt-Gedicht: Etwas unglückliche Trennung – suchende Rückkehr – und dann eine Art Zu-spät-Erfahrung, die bei beiden Schmerz auslöst.
- Das Jahrmarkt-Gedicht hätte auch das Potenzial gehabt, dass hier zwei Liebende zum Beispiel durch berufliche o.ä. Zwänge getrennt worden sind – und dann eine Wiederaufnahme des Glücks unmöglich wird durch den Eintritt in eine offensichtlich weniger glückliche Beziehung – zum Beispiel, weil man als Frau versorgt werden musste – und wenn der eigentliche Geliebte zu lange wegbleibt, dann, ja dann nimmt man, was man bekommen kann.
- Aber dieses Potenzial wird nicht eindeutig genutzt – von daher bleibt das Gedicht etwas im Ungefähren, konzentriert sich eher auf den Gegensatz zwischen scheinbarem äußeren und öffentlichen eben Jahrmarkt-Glück und realem Unglück, wenn man genauer hinschaut.