Marlene Röder, „Scherben“ – wie man eine Kurzgeschichte weiterschreiben kann

Was die Kurzgeschichte „Scherben“ von Marlene Röder so interessant macht

Es gibt Kurzgeschichten, die haben ein dermaßen offenes Ende, dass man fast eine ganz neue Geschichte schreiben muss, wenn man sie fortsetzen will. Dennoch sollte man sich natürlich an die Elemente halten, die die Ausgangsgeschichte bereithält.

Kurz zum Inhalt:

In der Kurzgeschichte geht es um einen 14jährigen Jungen, der von seinem Vater misshandelt wurde und deshalb von einer Pfarrersfamilie aufgenommen wird.

Er hat große Schwierigkeiten, die Freundlichkeit, mit der man ihm entgegenkommt, anzunehmen. Zum Eklat kommt es, als die Tochter des Hauses zufällig zu ihm ins Badezimmer kommt und so die Spuren der Schläge auf seinem Rücken sieht. Dem Jungen ist das so peinlich, dass er aggressiv wird, dabei auch einen Spiegel zertrümmert und mit Würfen das Mädchen leicht verletzt. Als der Pfarrer vorsichtig anklopft und ihm über die Scherben hinweghelfen will, reagiert auch da wieder aggressiv, allerdings nur mit Worten, und geht selbst mit nackten Füßen über die Scherben zur Tür.

Was man bei einer Fortsetzung beachten sollte

Folgende Momente muss man wohl berücksichtigen, wenn man die Geschichte weiterdenken und -schreiben will:

  1. Der Junge leidet vor allem, wenn er „unvorsichtig“ ist, d.h. er ist misstrauisch, immer auf der Hut.
  2. Er möchte kein Kind mehr sein, ist deshalb mit dem „Babyzimmer“, das ihm angeboten worden ist, überhaupt nicht glücklich.
  3. Er ist schnell aggressiv, denkt aber zumindest über Möglichkeiten der Empathie nach, wenn er erfährt, dass der Sohn, dessen Zimmer er bekommen hat, an einer unheilbaren Krankheit gestorben ist.
  4. Die Freundlichkeit des Pfarrers, der nichts dagegen hat, dass der Junge an einem Modellflugzeug des toten Sohnes weiterbastelt, hat ihn angeblich dazu verführt, „lasch“ zu werden. Auch dies ein Signal in Richtung Kampf und Männlichkeit.
  5. In dem Moment der größten Peinlichkeit, als seine Narben gesehen werden, hat er doch soviel Wahrnehmungsvermögen, dass er die Schönheit des Mädchens erkennt und anerkennt. Sie steht offensichtlich für die andere Seite des Lebens, die er bisher allenfalls erahnen konnte.
  6. Als er bei ihr so etwas wie Mitleid sieht, wird er aggressiv – auch das wieder ein Element des Stärkekults.
  7. Das Mädchen zeigt auch Mut, schreit nicht, selbst dann nicht, als sie verletzt wird. Sie geht erst, als sie den Spiegelscherben ausweichen muss.
  8. Bei dem Gedanken, dass er das Pfarrhaus jetzt wohl verlassen muss, fühlt er sich gar nicht wohl – offensichtlich hat es doch schon positiv auf ihn gewirkt.
  9. Interessant der Hinweis, dass er an das halbfertige Modellflugzeug denken muss – es steht wohl für einen halbfertigen Heilungsprozess, dessen vorzeitiges Ende er fürchtet.
  10. Am Ende ist er zwar noch einmal aggressiv gegenüber dem Pfarrer, der ihm helfen will, aber er wird aktiv, nimmt die Situation selbst in die Hand, warum sollte er jetzt nicht einen Schritt weitergehen, um sich selbst positiv zu Ende zu bauen – und am nächsten liegt er hier wohl, dass er sich dem Mädchen gegenüber entschuldigt oder erklärt. Man muss nur noch nach einer Gelegenheit suchen.

Versuch einer Fortsetzung

Wir präsentieren hier nur Handlungsschritte, die sich ergeben könnten.

  1. Als der Junge das Zimmer verlässt, während der Pfarrer den Schaden näher begutachtet und aufräumt, begegnet der Junge dem Mädchen, das auf ihn gewartet hat – mit einem Verbandskasten in der Hand.
  2. Entscheidend ist, dass sie sagt, wobei sie lächelt: „Ich weiß, du kannst dir selber helfen, aber ohne Pflaster geht es nicht.“
  3. Der Junge sagt dazu nichts, nimmt den Kasten und verschwindet in seinem Zimmer.
  4. Während er sich verbindet, denkt er nach, beruhigt sich und denkt noch einmal an das Modellflugzeug, das nicht fertig geworden ist.
  5. Schließlich kommt er auf den Gedanken, dem Mädchen den Verbandskasten zurückzubringen.
  6. Tatsächlich ist es in seinem Zimmer: Er klopft, übergibt den Kasten und sagt nur „sorry“ und „danke“.
  7. Am Abend ist er dann soweit, dass er mit dem Pfarrer reden kann, so dass er bleiben kann.
  8. Der Pfarrer könnte zum Beispiel erzählen, dass sein inzwischen toter Sohn damals auch den Spiegel zerschlagen hat, als er merkte, wie schwach er durch die Krankheit schon geworden war.
  9. Der Junge fragt dann, ob er an dem Modellflugzeug weiterbauen kann.
  10. Dabei erscheint dann das Mädchen und er erklärt ihm, welche Bedeutung das für ihn bekommen hat.

Nachtrag auf Grund eines Videokommentars

Ein schönes Beispiel, dass man dadurch schlauer werden kann, dass man sich mit der Meinung anderer ernsthaft auseinandersetzt, hat sich durch einen Kommentar zu dem Video ergeben:

Da heißt es in dem Kommentar:

„Ich denke nicht, dass der Junge von dem makellosen Aussehen des Mädchens positiv beeindruckt ist. Ganz im Gegenteil vergleicht er seinen eigenen misshandelten und deshalb fehlerhaften Körper mit ihrer scheinbaren Makellosigkeit und schämt sich. Er sieht sie nur als makellos, weil er sich selbst als kaputt sieht.“

Unsere Antwort darauf

Wir haben uns dann mal damit auseinandergesetzt und sind nach einigem Hin und Her zu folgendem Ergebnis gekommen. Übrigens ein schönes Beispiel, wie man sich schreibend Klarheit verschaffen hat und nicht nur noch etwas darstellt, was vorher schon feststand:

  1. Danke für den Hinweis.
  2. Ich habe mir die Geschichte eben daraufhin noch mal angeschaut und kein Textsignal für den Vergleich zwischen sich und dem Mädchen gefunden
  3. Natürlich kann man das indirekt erschließen. Aber im Text selbst gibt es keinen Hinweis.
  4. Warum sollte er sich auch zusätzlich quälen mit einem für ihn so negativen Vergleich?
  5. Aber schauen wir uns die Textstelle noch mal an: „Ich wirbel herum, aber ihr Blick geht an mir vorbei, es ist immer noch alles sichtbar im Spiegel, und wie kann das sein, dass sie morgens schon so aussieht, mit dem langen, rotbraunen Haar, das ihr über die Schulter fällt, makellos, ja, das ist das Wort. „
  6. Der Junge stellt fest, dass für das Mädchen „immer alles noch sichtbar im Spiegel ist“. Das heißt: Er selbst ist aktuell darauf gar nicht fokussiert. Und dann kommt gleich sein Eindruck von ihrer Makellosigkeit.
  7. Allerdings muss man wohl auch berücksichtigen, was dann kommt: „sie guckt mich an wie etwas, was runtergefallen und kaputtgegangen ist, schade drum.“ Und dann wird der Junge richtig ärgerlich und wirft sogar etwas nach ihr.
  8. Jetzt hängt alles davon ab, ob der Junge das mit der Makellosigkeit in Beziehung setzt oder ob es zwei verschiedene Dinge sind, wobei das zweite erst auftaucht, als er ihre geweiteten Augen sieht.
    Hat er also erst einen kurzen positiven Eindruck und kommt er dann erst auf die Idee, ihre Augen mit etwas Negativem für sich negativ in Verbindung zu bringen.
    Es spricht aber einiges dafür, dass das sein Problem ist. Warum sollte das Mädchen das denken. Es spricht mehr dafür, dass sie einfach erschrocken ist, vielleicht auch Mitgefühl empfindet.
    Das wiederum könnte den Jungen zu seiner heftigen Reaktion verleiten, denn viele solchermaßen Verletzte wollen alles, nur kein Mitleid.
  9. Wir haben diesen Einwand auf jeden Fall gerne als Anregung auf diese Seite aufgenommen, weil das nicht einfach eindeutig zu klären ist. Und das ist ja das Schöne an Literatur. Aber auf jeden Fall danke für den Hinweis – man kann das wirklich auch anders sehen 🙂

Wir haben das später noch um das Folgende ergänzt:

Dabei ist mir in typisch dialektischer Weise aber noch ein ergänzender Einfall gekommen, nämlich dass der Junge den Blick des Mädchens falsch interpretieren könnte. Er legt etwas in den Blick hinein, was möglicherweise sein eigenes Problem ist und mit dem wirklichen Denken und Fühlen des Mädchens nichts zu tun hat.

Daraufhin bekamen wir den folgenden Antwort-Kommentar:

„So sehe ich das Ganze auch. Der Junge ist der typische Fall eines unreliable narrators. Die Geschichte ist nur aus seiner Sicht berichtet, weshalb er anderen Personen Gefühle und Aussagen zuschreibt, die diese möglicherweise gar nicht wirklich vertreten. Wenn er beschreibt, dass das Mädchen ihn als etwas sieht, was heruntergefallen und kaputtgegangen ist (hier der Zusammenhang mit dem Titel „Scherben“), liegt es nahe, dass er sich eigentlich selbst so sieht (weshalb er auch seine alte Haut loswerden will). Auch legt er ihr wahrscheinlich die Worte „oh, tut mir so leid für dich“ in den Mund (beziehungsweise er interpretiert ihren Gesichtsausdruck so), weil Mitleid das ist, was er am allerwenigsten möchte. Das ist natürlich nur meine Interpretation. Aber auch wenn er sagt,dass er an dem Modellflugzeug baut, um die Pfarrerfamilie zu ärgern, ist er damit denke ich nicht ganz ehrlich – denn eigentlich möchte er auch etwas aufbauen und nicht nur zerstören. Deshalb denkt er wohl auch an das Modellflugzeug, als er im selbstkreierten Trümmerhaufen steht. Lange Rede kurzer Sinn, ich denke, man kann nicht alles für voll nehmen, was der Ich-Erzähler sagt“

Dann noch ein weiterer Kommentar

„Wo Sie schon dabei sind, so möchte ich noch hinzufügen, dass ich das Ende auch weniger positiv (also nicht als die Stärke zum weiterlaufen), sondern eher als eine Flucht interpretiert habe. Er flieht vor der Möglichkeit einer schützenden, hilfsbereiten Umgebung, in der der Junge noch Kind sein und Schwäche zeigen darf. Er stößt die Familie von sich weg, weil er Angst hat, zu verweichlichen, was für ihn zu Hause schlimme Konsequenzen bedeutet hätte. Und er verlässt sich auf seine eigene Stärke, die er aber nur mit äußeren Faktoren wie Alter und Muskeln begründen kann (siehe Zitat „ich habe keinen Muskelschwund…“), während er innerlich eigentlich sehr verletzlich ist (siehe Zitat „alles voller Scherben und ich bin barfuß“). Allerdings hat er gezeigt, dass er für sich einen Neustart möchte (Bau am Modellflugzeug, alte Haut ablegen, sich ausruhen wollen) und er reflektiert auch über seine Taten und weiß, dass er den Pfarrer absichtlich durch Worte verletzt (und schämt sich auch dafür, da er bei der Reaktion des Pfarrers wegguckt). Dementsprechend ist es durchaus möglich, dass ein weiterer positiver Umgang der Pfarrersfamilie mit ihm auch eine positive Wandlung seinerseits bewirkt.“

Zum Video

Zu finden ist es auf Youtube unter:
https://youtu.be/8tf-XFuSQhYDie Dokumentation zum Video kann hier heruntergeladen werden.
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Weiterführende Hinweise