Anmerkungen zu Julia Francks Kurzgeschichte „Streuselschnecke“

Überblick über unseren Umgang mit dieser Kurzgeschichte

Wir fügen hier erst mal eine Grundinformation zu der Kurzgeschichte ein, die wir schon mal auf einer anderen Seite veröffentlicht haben, dort aber im Rahmen einer Zeichensetzungsübung.

Wer sich dafür interessiert, findet ein entsprechendes Arbeitsblatt auf der folgenden Seite:
https://www.schnell-durchblicken.de/durchblick-auch-in-deutsch/analyse-von-kurzgeschichten-klassenarbeit/komma-%C3%BCbung-streuselschnecke/

Hier verfolgen wir eher einen oberstufengerechten Ansatz, was die Erst-Informationen aber nicht wertlos macht.
Eine genauere Analyse des Inhalts und der Erzählweise erfolgt weiter unten.

Kurzer Überblick über den Inhalt der Kurzgeschichte

  1. Bei dem Text „Streuselschnecke“ von Julia Franck fällt am Anfang auf dass, das Mädchen bei dem Anruf eines scheinbar fremden Mannes sehr ungewöhnlich reagiert, wenn sie sagt, dass sie schon viel „über solche Treffen gehört“ und sich oft vorgestellt“ habe „wie so etwas wäre“.
  2. Am besten lässt sich ihr Verhalten erklären wenn man davon ausgeht, dass das Mädchen zu diesem Zeitpunkt bereits weiß, dass es sich um ihren getrennt lebenden Vater handelt.
  3. Dafür spricht auch das Verhalten des Mannes bei den verschiedenen Treffen, wenn er Verschiedenes mit ihr unternimmt und ihr seine berufliche Arbeit zeigt. Die Art und Weise, wie er seinen Besuch seinen Freunden vorstellt, sowie die Ahnung des Mädchens, was sein „feines ironisches Lächeln“ verrät, zeigt, dass eher eine besondere familiäre Gemeinsamkeit als eine Liebesbeziehung oder etwas Ähnliches gegeben ist.
  4. Was auch auffällt, ist die besondere Art und Weise, wie die tödliche Krankheit beschrieben wird, nämlich sehr distanziert.
  5. Dass diese beiden Menschen sich aber in Wirklichkeit doch sehr nahe kommen, zeigt zum einen die Bemerkung des Vaters „er hätte gerne mit [ihr] gelebt“ zum anderen die Tatsache, dass die Tochter den Wunsch nach Morphium zwar nicht erfüllen kann, dafür aber umso mehr Streuselschnecken backt.
  6. Die Geschichte wirft auch Fragen auf: So wird nicht klar, warum Vater und Mutter sich getrennt haben. Dass sie aber danach kein gutes Verhältnis hatten, macht der Schluss der Kurzgeschichte deutlich. Gerne hätte man noch etwas Näheres darüber erfahren, wie die kleine Schwester zum Vater steht, immerhin nimmt sie an der Beerdigung teil. Das ist aber wohl typisch für eine Kurzgeschichte, dass solche Nebenhandlungen nicht aufgenommen werden.

Vorschlag für einen kritischen Umgang mit der Kurzgeschichte

  • Was man sicher als besonders kunstvolles Mittel in der Kurzgeschichte betrachten kann, ist die wichtige Lücke, was die Information zu dem Gesprächspartner am Telefon angeht.
  • Da meldet sich nämlich eine „fremde Stimme“ – ein Mann. Gehen wir mal davon aus, dass diese Geschichte aus der Perspektive eines 14jährigen Mädchens erzählt wird, dann dürfte hier eher Zurückhaltung angesagt sein.
  • Noch stärker irritiert wird der Leser, wenn genannt wird, was dieser Mann von einem doch wohl genauso fremden Mädchen will, nämlich es „kennen lernen“. Wenn man ganz genau ist, dann lautet die Frage sogar, ob das Mädchen den Anrufer kennen lernen möchte – bei einem Telefonat unter Fremden noch seltsamer.
  • Dann kommt diese Lücke, die man als genial oder auch als sehr fragwürdig betrachten kann.
  • Die Ich-Erzählerin (IE) ist nämlich nicht ebenfalls irritiert, vielleicht sogar unangenehm berührt, nein, sie zögert nur, ist sich nicht sicher. Dann verrät sie dem Leser nur eine halbe Wahrheit: „Zwar hatte ich schon viel über solche Treffen gehört und mir oft vorgestellt, wie so etwas wäre, aber als es soweit war, empfand ich eher Unbehagen.“
    Erst später wird klar, dass es sich um die Frage eines Treffens mit dem eigenen Vater handelt, den man lange nicht oder überhaupt noch nie gesehen hat.
  • Hier beginnt das Fragwürdige: Welches Spiel spielt Julia Franck hier eigentlich mit dem Leser oder lässt die Ich-Erzählerin spielen. Bei der Autorin dürfte es klar sein: Diese Unklarheit am Anfang macht den wesentlichen Reiz dieser Geschichte aus. Aber es ist eben ein Spiel mit dem Leser – und man darf sich nicht wundern, wenn angesichts der gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit ein Schüler kurzzeitig den Verdacht hat, dass dieses Mädchen im Rahmen von Prostitution von einem Freier angerufen wird. Aber auch das dürfte bei Minderjährigen anders ablaufen als so über einen Anruf.
  • Bleibt die Frage, ob diese seltsame Halb-Verschweigen durch die Ich-Erzählerin denn erzählerisch motiviert ist. Das hängt mit der Erzählsituation zusammen – und die macht nur Sinn, wenn die Ich-Erzählerin das offensichtlich einem anderen erzählt, was dann zu einer Kurzgeschichte wird. Es gibt also einen impliziten Leser, der bewusst in die Irre geführt wird.
  • Man kann der IE  nicht zugutehalten, dass sie selbst sich in der Rückschau schonend – distanziert an diese Geschichte heranmacht und deshalb alles so erzählt, wie es damals abgelaufen ist – aber es ist ja gar nicht so abgelaufen – denn wohl spätestens bei der Nennung des Namens weiß sie, mit wem sie es zu tun hat. Sie spricht ja über „solche Treffen“, weiß also genau, worum es geht.
  • Halten wir fest: So eindrucksvoll die Geschichte ist, was moderne Patchwork-Familien, ihre Chancen und Probleme, angeht – erzähltechnisch wird hier ein Trick angewendet, zu dem man sich kaum eine natürliche Kommunikationssituation vorstellen kann.
  • Allenfalls in einer Situation wie im Dekameron des Giovanni Boccaccio passt ein solcher Erzähleinstieg: Denn bei den 100 Novellen, die sich vor der Pest flüchtende Florentiner an ihrem Zufluchtsort erzählten, geht es vor allem um Spannung – und da darf man wichtige Infos erst mal verschweigen. Das gilt aber wohl kaum für Situationen, in denen ein Ich-Erzähler sich mit seiner eigenen Geschichte auseinandersetzt.

Vorschlag für einen kreativen Umgang mit der Kurzgeschichte

Kreative Anregung

  1. Wenn man die Geschichte nun aber zu einem Roman ausbaut, in dem man sich überlegt, wie sie weitergehen könnte, wäre gerade die kleine Schwester eine gute Brücke zu den Hintergründen des Geschehens. Sie könnte zum Beispiel berichten, dass es der Mutter seit einiger Zeit auch schlecht geht, weil sie unter der Entwicklung leidet. Wenn die ältere Schwester dann einen Brief ihres verstorbenen Vaters findet, könnte der aufdecken, dass die Mutter den Kindern jahrelang Lügen über den Vater präsentiert hat, so dass sie gar keine Lust hatten, sich mit ihm zu beschäftigen. Jetzt könnte es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Mutter und den Töchtern kommen, bei der alle begreifen, wie kostbar und nicht wiederholbar das Leben ist und dass man es nicht mit unnötigen Streitereien vertun sollte.
  2. Im weiteren Verlauf könnte der Roman zeigen, wie die Beteiligten versuchen, diese Einsicht in ihrem Leben umzusetzen, welche Probleme dabei auftauchen und wie sie bewältigen.