Was ist eine Deutungshypothese und wie geht man damit um? (Gedichtinterpretation)

Deutungshypothese: Kurzinfo:

Eine Deutungshypothese ist eine vorläufige Annahme, was zum Beispiel ein Gedicht aussagt und welche Bedeutung das zum Beispiel für das Leben allgemein o.ä. hat.
Die Hypothese muss dann am Text überprüft werden, ob sie ihm gerecht wird.

Ausführliche Erklärung

  1. Wenn man ein Gedicht interpretieren muss, taucht häufig der Begriff „Deutungshypothese“ auf – was ist damit gemeint und wie geht man damit am besten um?
  2. Zunächst einmal zeigen wir, dass so etwas durchaus zum Alltag gehört und nicht nur bei der Interpretation von Gedichten vorkommt.
  3. Hypothese bedeutet, dass es eine vorläufige Annahme ist, die man anschließend überprüfen muss. Stellen wir uns vor: Wir kommen zur Schule – und vor der Schule steht ein Feuerwehrfahrzeug. Schon fangen wir an, die Situation zu analysieren: Brennt es irgendwo? Werden Schläuche ausgerollt? Verlassen Leute in Panik die Schule? All das ist nicht gegeben – aber ein Feuerwehrmann erzählt uns, dass es einen Brand in einer Toilette gegeben hat – und man vermutet Brandstiftung
  4. Deutung bedeutet immer, dass man etwas, was man vorher analysiert hat, in größere Zusammenhänge stellt. Auf der Basis unserer Informationen fangen wir an, den Fall zu „deuten“. Das heißt: Wir stellen uns die Frage, was das für uns, die Schule, die Stadt und indirekt den Staat bedeutet, wenn Toiletten angezündet werden. Wer macht so etwas? Was kann man dagegen tun?
  5. Zurück zur Gedichtinterpretation: Auch hier muss erst analysiert werden – für eine Hypothese reicht es, das Gedicht einmal zu überfliegen und dann eine Vermutung anzustellen – zunächst über seine Aussage und anschließend darüber, worin die Bedeutung des Gedichtes liegen könnte.
  6. Wir zeigen das mal an einem Beispiel und nehmen dazu das Gedicht von Eichendorff: „Frische Fahrt“:

Beispiel: Eichendorff, „Frische Fahrt“

Joseph von Eichendorff

Frische Fahrt

Laue Luft kommt blau geflossen,
Frühling, Frühling soll es sein!
Waldwärts Hörnerklang geschossen,
Mutger Augen lichter Schein;
Und das Wirren bunt und bunter
Wird ein magisch wilder Fluß,
In die schöne Welt hinunter
Lockt dich dieses Stromes Gruß.

Und ich mag mich nicht bewahren!
Weit von euch treibt mich der Wind,
Auf dem Strome will ich fahren,
Von dem Glanze selig blind!
Tausend Stimmen lockend schlagen,
Hoch Aurora flammend weht,
Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
Wo die Fahrt zu Ende geht!

7.    Das Gedicht zeigt bei der ersten Lektüre, dass da jemand im Frühling verlockt wird, in die schöne Welt hinauszufahren, um etwas zu erleben. Dabei nimmt das Lyrische Ich keine Rücksicht – weder auf andre noch auf sich.
8.    Dann stellt man das in größere Zusammenhänge und fragt nach möglichen Bedeutungen des Gedichtes: Die einen werden sagen: Da will einer sein Ding machen  und zieht das einfach durch. Andere werden sagen: Da folgt jemand seinen Gefühlen, ohne viel nachzudenken und mit vollem Risiko.
9.    Wenn man sich auf eine Deutungshypothese festlegen muss, könnte man die folgende vertreten und am Text überprüfen: Das Gedicht zeigt einen Menschen, der auf romantische Weise voll in seinen Gefühlen aufgeht und dabei „aufs Ganze geht“ – mit voller Risikobereitschaft. Man sieht hier, dass man vom Text ausgeht, aber schon Einschätzungen und ansatzweise auch Wertungen („ganz in seinen Gefühlen aufgeht“, „aufs Ganze geht“) hinzufügt – das ist genau der Übergangsbereich von der Analyse zur Interpretation.

10.    Diese Hypothese muss dann am Text überprüft werden – und wir sind guter Dinge, dass man sie „verifizieren“ kann. Das heißt: Aus der Hypothese wird eine begründete Ergebnisthese.

Beispiel: Storm, Die graue Stadt am Meer“

Die Stadt
Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.
Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn‘ Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.
Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.
Bei dem folgenden Gedicht könnte man die folgende Deutungshypothese aufstellen:
Das Gedicht zeigt,
  • dass etwas, was scheinbar unansehnlich, ja fast hässlich erscheint,
  • auf Grund einer gemeinsamen Geschichte
  • doch als sehr schön empfunden werden kann.
Wenn man sich diese Anordnung anschaut, dann bekommt man ein allgemeines Muster, mit dessen Hilfe man leicht Deutungshypothesen aufstellen kann.
  1. Man beginnt mit dem Einleitungssatz: „Das Gedicht zeigt…“
  2. Dann nimmt man zentrale Aussagen des Textes auf: In diesem Falle beginnt man mit dem deutlichen Signalbündel in Richtung „unansehnlich“, „hässlich“
  3. Anschließend verweist man auf den entscheidenden Punkt, der zu einer anderen Sicht führt.
  4. Am Ende nennt man dann noch diese neue Sicht.
Je nach dem Umfang der Aussagen kann man die Einzelteile natürlich variieren.
 
 
Theodor Storm