Rilke, „Einmal nahm ich“ – Anmerkungen zu einem Liebesgedicht

Zu diesem Gedicht

Wir schauen uns gerne immer wieder Gedichte an, die nicht auf den ersten Blick so ganz verständlich sind.

Dabei verwenden wir die Methode der Kombination von „induktivem Vorgehen“, d.h. der Klärung der einzelnen Signale, und „hermeneutischer Kontrolle“, d.h. immer wieder Rückgriff auf das ganze Gedicht, um die Einzelheiten möglichst im Zusammenhang sicher zu verstehen.

Wir präsentieren im Folgenden jeweils eine Strophe des Gedichtes und kommentieren sie dann.

Rainer Maria Rilke

Einmal nahm ich

Strophe 1

Einmal nahm ich zwischen meine Hände 
dein Gesicht. Der Mond fiel darauf ein. 
Unbegreiflichster der Gegenstände 
unter überfließendem Gewein. 

  • Das Gedicht beginnt mit einem Rückblick auf eine Situation großer Nähe zwischen zwei Menschen.
  • Man hat aber den Eindruck, dass das eine sehr einseitige Handlung ist, die erst mal nur vom lyrischen Ich ausgeht.
  • Interessant ist dann der zweite Satz, der die direkte Handlung verlässt und sich einem äußeren Einfluss zuwendet, nämlich dem Eingreifen des Mondes.
  • Sehr fragwürdig und wenig passend erscheint das Verb „einfallen“, wenn es um eine sehr intime Handlung zwischen zwei Menschen geht.
  • In der nächsten Verszeile wird dann der Mond als etwas äußerst Unbegreifliches charakterisiert.
  • Die letzte Zeile kann man am besten erst mal so verstanden werden, dass diese körpersprachliche Annäherung zwischen zwei Menschen mit heftigem Weinen verbunden ist.
  • Insgesamt hat man am Ende der ersten Strophe den Eindruck, dass es hier um einen unglücklichen Moment in einer engen Beziehung geht. Denkbar wäre zum Beispiel ein Moment der Trennung.

Strophe 2

Wie ein williges, das still besteht,
beinah war es wie ein Ding zu halten.
Und doch war kein Wesen in der kalten
Nacht, das mir unendlicher entgeht. 

  • Zu Beginn der zweiten Strophe scheint das lyrische Ich noch mal zum Ausgangspunkt zurückzukehren, denn das Verb „halten“ passt natürlich zu dem „zwischen meine Hände nehmen“.
  • Der Eindruck, dass bei dieser Handlung nur das lyrische Ich aktiv ist, bestätigt sich dabei.
  • In der zweiten Zeile wird die Distanz zu einer wirklichen menschlichen Beziehung noch deutlicher, wenn die andere Person mit einem Ding verglichen wird.
  • Die letzten beiden Zeilen wenden sich dann offensichtlich wieder den Bedürfnissen des lyrischen Ichs zu. Es will anscheinend das Gegenüber für sich einnehmen, aber es entgeht ihm. Das hört sich so an als ob dieses sich ihm sogar entzieht.
  • Ein auffallendes künstlerisches Mittel ist die Verbindung von „unendlich“ und sich „entziehen“, was in besonderer Weise die Enttäuschung,  die Nicht-Erfüllung eines Wunsches deutlich macht.

Strophe 3


O da strömen wir zu diesen Stellen,
drängen in die kleine Oberfläche
alle Wellen unsres Herzens,
Lust und Schwäche,
und wem halten wir sie schließlich hin? 

  • In dieser Strophe wird das lyrische Ich jetzt allgemeiner. Es spricht von der kleinen „Oberfläche“ (auch eine seltsame Formulierung für etwas Menschliches, das man liebt), was wohl auf das Gesicht in den Händen zurückgreift, und den „Wellen unseres Herzens“, was wohl den Bedürfnissen entspricht.
  • Auch hier hat man wieder den Eindruck, dass die Größenverhältnisse nicht zueinander passen. Da wird mehr gewünscht, als die andere Seite zu geben bereit oder in der Lage ist.
  • Der Gegensatz von „Lust und Schwäche“ kann so verstanden werden, als eine sehr egoistische Vorstellung von einem Liebesverhältnis.
  • Die letzte Zeile präsentierten eine rhetorische Frage, die anscheinend in die Richtung geht, dass das lyrische Ich sich fragt, ob das überhaupt der richtige Partner ist für seine Bemühungen.

Strophe 4

Ach dem Fremden, der uns missverstanden,
ach dem andern, den wir niemals fanden,
denen Knechten, die uns banden,
Frülingswinden, die damit entschwanden,
und der Stille, der Verliererin. 

  • Die letzte Strophe präsentiert eine Welle von Klagen, die alle etwas mit Vergeblichkeit zu tun haben.
  • Den Schlusspunkt bildet dann „Stille“ in einem negativen Sinne. Man kann das so verstehen, dass man sich nichts mehr zu sagen hat, aus welchen Gründen auch immer.

Das Gedicht zeigt,

  1. dass eine Beziehung bestimmt sein kann von einem großen Missverhältnis zwischen dem Wollen des einen und dem Sich-Zurückhalten des anderen.
  2. Schon ziemlich an der Peinlichkeitsgrenze ist dann allerdings die Bewertung dieser Situation.
  3. Statt den Fehler in der Konstellation oder bei sich zu suchen, würdigt das lyrische Ich anscheinend das Gegenüber ab und macht das persönliche Missgeschick zu einem grundsätzlichen.

Wer noch mehr möchte