Lessing, „Der Wolf und das Schaf“

Gotthold Ephraim Lessing

Der Wolf und das Schaf

Der Durst trieb ein Schaf an den Fluß, eine gleiche Ursache führte auf der andern Seite einen Wolf herzu. Durch die Trennung des Wassers gesichert und durch die Sicherheit höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber hinüber: „Ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an, habe ich dir nicht etwa vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es mein Vater gewesen sein.“ Der Wolf verstand die Spötterei; er betrachtete die Breite des Flusses und knirschte mit den Zähnen. Es ist dein Glück, antwortete er, dass wir Wölfe gewohnt sind, mit euch Schafen Geduld zu haben, und ging mit stolzen Schritten weiter.
Die Moral der Fabel:
Fabeln sind ja dazu da, mit Hilfe von Tieren etwas über Menschen auszusagen.
Diese Fabel macht deutlich,
  1. dass ein gewöhnlich Unterlegener eine für ihn ausnahmsweise mal günstige Situation gerne ausnutzt, um dem an sich Mächtigeren mal einen mitzugeben.,
  2. dass das aber nicht besonders klug ist, denn dieser Wolf wird sich möglicherweise dieses Schaf merken – und sich beim nächsten Mal rächen,
  3. dass der Wolf sich sehr viel klüger verhält als das Schaf, indem er die Situation richtig einschätzt und mit einer geschickten Antwort das Beste daraus macht.
Kreative Aufgaben:
  1. Ersetze die Passage
    „Ich mache dir doch das Wasser nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an, habe ich dir nicht etwa vor sechs Wochen nachgeschimpft? Wenigstens wird es mein Vater gewesen sein“ durch eine andere, die leichter verständlich ist.
    Zum Beispiel könnte das Schaf sagen:
    „Na, alter Kumpel, heute schon gefressen? Ich habe jedenfalls den Bauch voll mit dem wunderschönen Gras von der Wiese hinter mir.“
    oder:
    „Warum guckst du denn so? Komm doch einfach rüber, dann trinken wir uns gemeinsam einen.“
  2. Ersetze die Antwort des Wolfes durch eine andere, die ebenfalls seinen Stolz sichert:
    Hier kann man auf den Spruch zurückgreifen: „Man sieht sich im Leben immer zweimal.“

Anmerkungen zu dem Text

  1. Bei dem Text handelt es sich um eine Fabel, weil mit Hilfe von Tieren menschliches Verhalten so vorgestellt wird, dass man darüber nachdenkt.
  2. Die Geschichte beginnt mit der Begegnung zwischen zwei Tieren, die in freier Wildbahn sofort zu einer Jagdsituation führt.
  3. In diesem Falle aber wird das verhindert, weil zwischen Schaf und Wolf ein ausreichend breiter Fluss liegt.
  4. Das führt dazu – worauf der Erzähler ausdrücklich hinweist -, dass das Schaf übermütig wird und den Wolf provoziert.
  5. Was Lessing sich hier ausgedacht hat, ist nicht so ganz einfach zu verstehen: Es läuft wohl darauf hinaus, dass das Wasser jetzt für den Wolf trübe wird, d.h. er ärgert sich drüber.  Außerdem tut das Schaf so, als wären sie sich schon vor kurzem begegnet – ebenfalls ohne Erfolg für den Wolf. Das scheint aber frei erfunden zu sein, immerhin weiß das Schaf auch nichts Genaues.
  6. Wichtig ist die Reaktion des Wolfes: Sie besteht aus der Analyse der Situation, dem verständlichen Zorn, dann aber auch aus einer klugen Antwort: Er geht gar nicht auf das echte Hindernis für ihn ein, sondern schiebt einen anderen Grund vor, nämlich die angebliche Geduld der Wölfe mit den Schafen. In Wirklichkeit enthält es auch eine versteckte Drohung – nach dem Motto: „Warte, beim nächsten Mal liegt kein Fluss zwischen uns und dann passiert zwischen uns das, was immer passiert: Du wirst gefressen.“
  7. Wichtig ist dann noch der Schluss: Der Wolf hat sich damit in gute Stimmung versetzt und kann sogar „stolz“ von dannen gehen, denn er weiß ja: In der Regel geht so eine Begegnung für ihn gut aus, nicht für das Schaf.

Weiterführende Hinweise