Was ist das für ein Typ? Charakteristik des Grafen in Kleists „Die Marquise von O“

Vorüberlegungen zur literarischen Charakteristik allgemein
Eine literarische Charakteristik wird häufig mit einer Art Personenbeschreibung verwechselt.
Das merkt man daran, dass vor allem auch auf Punkte eingegangen wird, zu denen man nichts sagen kann.
Das hängt damit zusammen, dass in einem literarischen Werk, zum Beispiel der Novelle „Die Marquise von O….“, keine real existierende Person beschrieben wird, sondern es um eine fiktive Gestalt geht, die der Autor sich ausgedacht hat und den Erzähler vortragen lässt.
Dementsprechend sind wir der Meinung, dass man auch den Fortgang dieses Erzählprozesses mit in die Charakteristik einbauen kann, denn eine Figur ist ja in der Regel auch nicht statisch, sondern verändert sich im Laufe der Darstellung.
Außerdem ist eine literarische Charakteristik immer Teil der Interpretation.

Was bedeutet das für eine Charakteristik des Grafen F.?

Bei der zweiten Hauptfigur von Kleist Novelle, den Grafen F, macht es also nicht viel Sinn, im Einzelnen aufzuführen, was man da so an Elementen der äußeren Erscheinung und seiner Verhältnisse findet. Es ist ähnlich wie bei den künstlerischen Mitteln in einem Gedicht, diese Mittel müssen immer im Zusammenhang mit der Aussage-Absicht gesehen werden. Ähnlich ist es auch bei der Charakteristik. Spielen wir das im folgenden einfach mal durch.

Aufbau einer (literarischen) Charakteristik des Grafen F.

 

Einstieg mit dem Engel-Teufel-Motiv

Am Anfang geht es vor allem darum, den Gegensatz herauszuarbeiten zwischen dem Engel und dem Teufel. Damit nimmt man schon gleich ein Leitmotiv der ganzen Novelle auf und nutzt es für die konkrete Aufgabe.

Zum Engel-Teufel-Problem kommen noch Führungsschwächen als Offizier

Was vom Erzähler auch noch hervorgehoben wird, ist der aufopferungsvolle, aber auch ein bisschen unüberlegte Einsatz des Grafen beim Löschen des Feuers in der Zitadelle. Denn die Aufgabe eines Befehlshabers ist es nicht, sich selbst direkt in die Reihe zu stellen, sondern den Überblick zu behalten.
Wie wenig dieser Offizier wirklich eine Führungsfigur ist, zeigt sich dann auch an der nächsten Stelle, nämlich seiner Beantwortung der Frage des Oberbefehlshabers nach dem Vorfall. Hier wirkt der Graf völlig verstört und macht überhaupt keinen großen Eindruck. Man könnte natürlich auch ein bisschen übertrieben sagen: Wer so mit Wasserschleppen beschäftigt war, hatte keine Zeit, sich die Antwort auf eine naheliegende Frage vorher zurechtzulegen.

Egomanie und mangelhafte Empathie bei seinem plötzlichen Auftauchen mit Heiratsantrag

Noch weniger souverän erscheint der Graf dann bei seinem ersten größeren Auftreten im Text, nämlich seiner überraschenden Werbung um die Marquise. Auch hier zeigt sich, dass dieser Mann sehr mit sich, seinen Gefühlen und Wünschen beschäftigt ist, weniger dabei auch die Situation anderer Menschen mit einbezieht. Man könnte auch sagen: In Sachen Empathie, also Einfühlungsmöglichkeit im Hinblick auf andere und ihre Situation und Interessen ist sein Verhalten einfach ungenügend. Das sollte man jetzt nicht unbedingt in einer Klausur so schreiben, weil da natürlich auch eigene Emotionen des Schreibers durchklingen. Aber die Diskussion im Unterricht wird dadurch sicher beflügelt 😉
Mit seinen Vorstellungen von den Pflichten als Offizier ist es auch nicht weit her. Er ist schnell bereit, seinen Auftrag einfach zurückgehen zu lassen. Um die Folgen macht er sich nicht viel Gedanken.
Interessant auch, dass er mit seinem Auftreten die anderen ziemlich nervt: Das merkt man am besten am Schluss der Episode, als er – auf der Basis eines klugen Gedankens der Mutter – dann doch noch nach Neapel aufbricht.
Wichtig ist noch, was er vor seiner Abreise bei der Abendtafel erzählt, hier taucht nämlich ein Traum von ihm auf, in dem er die Marquise mit einem Schwan gleichsetzt, den er in seiner Jugend mal mit Kot beworfen hat. Deutlich werden an dem Traum zudem die Reinheit des Schwans/der Marquise und ihre Unzugänglichkeit. Am Ende dann die peinliche Situation, dass er wieder in ein Liebesgeständnis ausbricht.
S. 16

Nach der Rückkehr aus Neapel wieder übergriffiges Verhalten und Scheitern

Nach der Rückkehr des Grafen erscheint er dem Fortmeister „seiner Sinne völlig beraubt“ (S. 29), weil er die verstoßene Marquise ohne Bedenken heiraten will. Das ist verständlich im Rahmen seines Wiedergutmachungsplans. Aber „dass sie mehr wert wäre, als die ganze Welt, die sie verachtete“, erscheint doch etwas übertrieben – er kennt diese Frau doch fast gar nicht. Das ist wohl ein ganz zentrales Problem. Ständig wird von ihm Liebe nur behauptet und auch gefühlsselig-übergriffig praktiziert, so was wie echte innere Gemeinsamkeit wird aber nicht sichtbar.
Fast schon im Stil der Trivialliteratur geht es dann weiter, als der Graf in das Haus der Marquise eindringt und schon wieder übergriffig wird. Er muss fast schon mit Gewalt zurückgestoßen werden. Heute würde man so was als Stalking bezeichnen. (S. 30f)
Es ist dann die Annonce der Marquise, die den Grafen auf den Gedanken bringt, seinerseits auch per Annonce zu antworten und damit Klarheit zu schaffen. Es ist natürlich die Frage, warum er das nicht vorher schon getan hat. Die Marquise hätte ihm sicher zugehört, wenn er ihr zugerufen hätte, dass er der Vater sei. Aber das hätte Kleist natürlich seinen schönen Doppel-Annoncen-Effekt kaputt gemacht. Und so muss man wohl um der Schönheit der literarischen Fiktion auch einige Unstimmigkeiten in der Handlung in Kauf nehmen.

Die gute Idee der Antwort-Annonce wird zum fast vernichtenden Schlag

Interessant, wie sich der Auftritt abspielt, als der Graf zum Täter-Termin erscheint: Besonders die Mutter macht deutlich, dass man sich das doch eigentlich hätte denken müssen. Auch ist sie gleich bereit, alles zu vergeben und zu vergessen. Die Marquise verhält sich demgegenüber sehr viel angemessener, indem sie den Mann, der ihr Engel war, jetzt als Teufel betrachtet und nicht mehr heiraten will. Immerhin ist der Graf jetzt wie „vernichtet“.

Mutter und Vater finden eine pragmatische Lösung zu Lasten des Grafen

Erstaunlich, wie schnell sich auch der Vater auf die Linie der Mutter begibt – nach der Tochter und ihren Gefühlen wird nicht groß gefragt. Der Graf tritt bei diesen Entscheidungen in den Hintergrund, spielt eigentlich nur mit. Was seine Tränen bei der Unterschrift unter den Hochzeitskontrakt beweinen, wird nicht geklärt.
Er muss es dann hinnehmen, dass er auch öffentlich noch kein vollwertiger Bräutigam ist. Er darf sich erst unmittelbar vor der Kirche der Familie anschließen. Bei der Zeremonie schaut die Marquise ihn nicht mal an. Nach der Trauer bietet er eine recht schlechte Figur.

Happy End mit Hilfe anständigen Betragens und ein bisschen Zeichen der Liebe am Ende

Schließlich muss er sich regelrecht an seine Frau ranrobben, wird aber von den Eltern der Marquise unterstützt. Auch hier weiter kein Eingehen auf eine innere Bindung. Erst viel später, als er sie fragt, warum sie ihn damals als Teufel bezeichnet hat, bekommt er eine Antwort und eine Umarmung.

Vorläufige Zusammenfassung

Der Graf verhält sich von Anfang an nicht wie ein Offizier, der gute Eindruck, den er macht, wird mehr behauptet als überzeugend erzählt.
Sein Verhalten gegenüber der Familie und besonders gegenüber der Marquise ist egomanisch, ohne Verständnis für die andere Seite und wird schließlich fast gewalttätig.
Was die Entwicklung zum Guten angeht, hat er zwar eine passende Idee mit der 2. Annonce, aber auch hier zeigt sich bei ihm kein wirkliches Verständnis für sein Opfer.
Am Ende verdankt er sein Glück wohl nur den Spielregeln der Zeit, nach denen die eheliche Versorgung der Tochter für ihre Eltern den höchsten Stellenwert hat.
Insgesamt hat man den Eindruck, dass es sich bei dem Grafen um einen Getriebenen handelt, dessen wirkliche Liebes-Gefühle für die Marquise nirgendwo deutlich werden.
Auch am Ende wird das Glück nach dem 2. Ja-Wort mehr behauptet als erzählerisch dargestellt, es sei denn, der Hinweis auf die fröhliche Nachkommenschaft und ein einziges offenes partnerschaftliches Gespräch reichen dem Leser dafür aus.