Was das Gedicht „Brief eines Emigranten“so interessant macht
Das Gedicht „Brief eines Emigranten an seine Tochter“ von Oskar Maria Graf ist insofern besonders interessant, weil es eine Brücke schlägt zwischen denen, die in gefährlichen Zeiten ihre Heimat verlassen haben, und denen, die geblieben sind.
Außerdem ist dieses Gedicht insofern etwas Besonderes, weil es sich selbst ja als „Brief“ bezeichnet. Das macht den Versuch, daraus wirklich einen Brief zu machen, fast schon zu einer Selbstverständlichkeit. Das ist zugleich eine gute Gelegenheit, über die Unterschiede zwischen fiktionalen (literarischen) und Sachtexten nachzudenken.
Herausarbeitung der Eigenart und der Aussagen des Gedichtes
- Die erste Strophe
- macht erst mal die Kommunikationssituation deutlich: Ein „Kind“ hat – nehmen wir mal an – seinem Vater einen Brief geschrieben, der sein Vater- oder auch Mutterland verlassen musste.
- Darin geht es erst mal um die schöne Zeit des Sommers
- und das ist genutzt worden, eine Naturempfindung zu beschreiben, die es ermöglicht, sich wie die Erde selbst auch in einer Art Wachstum zu begreifen.
- Die zweite Strophe
- präsentiert das, was diese Beschreibung beim lyrischen Ich ausgelöst hat.
- Die Erinnerung ist wieder voll da
- und daraus entsteht ein Gefühl des Glücks.
- Die dritte Strophe
- entfernt sich allerdings von dieser Idylle
- und wendet sich dem Krieg zu, der anscheinend Vater und Kind aktuell trennt und möglicherweise Grund für die Emigration gewesen ist.
- Was dem lyrischen Ich aufgefallen ist, ist die Unbefangenheit, mit der davon die Rede im Brief gewesen ist.
- Sehr distanziert und unbeteiligt ist anscheinend von den gestorbenen Alten und von den Jungen, die in den Krieg mussten, gesprochen worden.
- Am Ende wird noch eine Art Floskel zitiert, die ausdrückt, dass das eigentlich Unfassbare zum Beispiel kriegerischer Aktivitäten als etwas ganz Normales empfunden wird.
- Die vierte Strophe
- zeigt dann wieder eine Reaktion, diesmal eine des Erschreckens.
- Irritiert wird zurückgefragt, ob das alles sei, was das Kind wisse.
- Dann wird etwas genannt, was beim Lesen vermisst wurde, nämlich die Rede „vom freien Frieden“.
- Den Schluss bildet dann eine düstere Vision, in der alles „öd“ wird und „keine Menschen“ mehr … Hier wird das eigentlich Wichtige weggelassen. Man kann an „leben“ denken oder an andere Situationen, in denen ein normales Leben in Freiheit und Frieden (siehe oben) zumindest nicht mehr möglich ist.
Zusammenfassung der Aussagen
Das Gedicht macht deutlich,
- wie ein Emigrant einen Brief seines Kindes aus der Heimat empfindet, nämlich
- zum einen als glücklich machend, weil jetzt schöne Erinnerungen wach werden,
- dann aber auch irritierend, ja erschreckend, weil sogar ganz locker von Krieg und Sterben geschrieben worden ist.
- Am Ende stehen nicht mehr glückliche Erinnerungen, sondern Sorgen, wenn nicht Ängste, dass Menschen unter diesen Bedingungen ein normales Leben in Frieden und Freiheit nicht mehr führen können.
Wichtig ist, dass hier natürlich unklar bleibt, welche Motive und Umstände beim Schreiben des Kindes eine Rolle gespielt haben:
- Gab es Zensur?
- Wollte das Kind sich vielleicht nur seine Situation schön reden und eben auch schreiben?
Wie könnte man dieses Gedicht in einen Brief umwandeln?
- Als erstes merkt man sofort, dass das Gedicht viel kompakter gehalten ist, als man in einem Brief schreiben würde. Der würde eher so beginnen:
- Liebes Kind
(hier würde wohl eher ein Name stehen, wie es sich für einen Sachtext gehört, der ja immer auf eine konkrete Situation bezogen ist, während ein Gedicht als fiktionaler Text allgemeingültiger ansetzt.) - über deinen Brief habe ich mich sehr gefreut (diese empathische, eine angenehme Atmosphäre der Gemeinsamkeit erzeugende Eingangsformel wird im Gedicht ganz weggelassen)
- Ich konnte richtig nachfühlen, wie dich der Sommer bewegt und verändert. Das Bild des Wachsens hat mir besonders gut gefallen.
- Und ich habe mich dann gleich wieder an die Wiesen, Äcker und den Wald bei uns zuhause erinnert, wo es mir ähnlich gegangen ist.
- Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich war, als ich mir das hier in der Fremde zumindest kurz vorstellen konnte.
- Was mir dann aber doch etwas seltsam vorkam: Du schreibst vom Krieg, als sei das eine lustige Angelegenheit. Du hast zwar Alte erwähnt, die gestorben sind, und Junge, die in den Krieg mussten: War denn da keiner dabei, den du kennst? (Hier geht es über das Gedicht hinaus. Aber man kann wohl annehmen, dass das mitgemeint ist.)
- Besonders hat mich erschreckt, dass es „immer losgehen kann“. Gibt es denn kein Ende? Soll das immer so weitergehen?
- Vor allem habe ich mich an der Stelle gefragt, gibt es denn in der Heimat überhaupt nichts Positives mehr? Freut sich keiner auf Frieden – und zwar einen in Freiheit?
- Da habe ich richtig Angst bekommen, dass von all dem Schönen am Ende nicht mehr viel da sein wird. Vor allem, dass die Menschen überhaupt nicht mehr richtig, also normal in Freiheit, leben können.
- Ich hoffe, dass du im nächsten Brief auch davon etwas schreiben kannst. Das wünsche ich dir und mir.
(Ähnlich wie am Anfang ist hier etwas eingefügt worden, was für einen persönlichen Brief im Vergleich zu einem Gedicht wohl typisch oder zumindest angemessen ist. Dass man nämlich am Ende möglichst positiv schließt.
- Liebes Kind