Heinrich Heine, „Verlass Berlin“

Der Ansatz unserer Interpretation

Wie immer gehen wir induktiv vor, d.h. wir arbeiten das heraus, was das lyrische Ich präsentiert, und fassen es dann zu Aussagen des Gedichtes zusammen.

Titel und Strophe 1

Heinrich Heine,

Verlass  Berlin

Verlass Berlin, mit seinem dicken Sande
Und dünnen Tee und überwitz’gen Leuten,
Die Gott und Welt, und was sie selbst bedeuten,
Begriffen längst mit Hegelschem Verstande.

  • Das Gedicht macht in der Überschrift bereits deutlich, dass es wohl Gründe gibt, Berlin als die Hauptstadt Preußens zu verlassen, wozu direkt aufgefordert wird. Unklar ist, an wen sich das Gedicht richtet und welche Gründe dabei eine Rolle spielen.
  • Die erste Strophe präsentiert dann einige angebliche Kennzeichen Berlins, wobei das lyrische Ich vor allem Probleme mit „überwitz’gen Leuten“ hat, also Leuten, die sich für überschlau halten.
  • Konkret erwähnt wird der Philosoph Hegel, der in Preußen eine große Rolle spielte und dementsprechend viele Anhänger hatte.

Strophe 2

Komm mit nach Indien, nach dem Sonnenlande,
Wo Ambrablüten ihren Duft verbreiten,
Die Pilgerscharen nach dem Ganges schreiten,
Andächtig und im weißen Festgewande.

  • Dieser Welt der Philosophie wird eine fernöstliche Gegenwelt gegenübergestellt,
  • die vor allem mit Dürften arbeitet,
  • und noch Pilgerscharen und damit eine ursprüngliche Frömmigkeit kennt.

Strophe 3

Dort, wo die Palmen wehn, die Wellen blinken,
Am heil’gen Ufer Lotosblumen ragen
Empor zu Indras Burg, der ewig blauen;

  • Diese Strophe präsentiert noch weitere angeblich schönere Kennzeichen,
  • von Palmen und Strand
  • bis hin zu besonderen Orten religiöser Bedeutung.
  • Was „Indra“ angeht, informiert man sich am besten zum Beispiel in der Wikipedia:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Indra
    Interessant könnte dabei Folgendes sein:
    „Indras Eltern waren Himmel (Dyaus) und Erde (Prithivi), die der Gott gleich nach der Geburt für immer voneinander trennte. Er entthronte seinen Vater, stürzte die alte Ordnung und riss die Herrschaft über die Welt an sich.“
    Das würde zur ersten Strophe passen und bedeuten, dass auch Philosophie-Götter wie Hegel entthront werden sollten.

Strophe 4

Dort will ich gläubig vor dir niedersinken,
Und deine Füße drücken, und dir sagen:
„Madame! Sie sind die schönste aller Frauen!“

  • Die letzte Strophe wechselt dann den Bereich.
  • Jetzt geht es nicht mehr um indische Götter,
  • sondern um die Begegnung einer Frau, die als die schönste verehrt werden soll.
  • Die Anrede spricht dafür, dass Heine hier an Frankreich denkt, das er als Ort seines Exils aufgesucht hat.

Aussage und Bedeutung des Gedichtes

Insgesamt ein Gedicht, das man sicher noch besser versteht, wenn man die genauen Umstände seiner Entstehung kennt.

Dem „normalen“ Leser bleibt der Eindruck, dass dieses Gedicht nicht sehr tiefsinnig ist, sondern einfach

  1. Heines Unzufriedenheit mit dem „sandigen“, trockenen Philosophie-Salon-Leben in Berlin ist – oder es einem anderen so darstellt,
  2. dass er eine fernöstliche Gegenwelt dem gegenüberstellt, die voller Düfte und religiöser Inbrunst ist. Heine als Religionskritiker meint das sicherlich nicht allzu ernst, es geht ihm nur um das Exotische.
  3. Das wird auch in der letzten Strophe deutlich, in der er mal eben schnell von Philosophie und Religion übergeht zur Anbetung einer schönen Frau.
  4. Man kann dieses Gedicht natürlich auch den „Reisegedichten“ zuordnen. Dort hätte es den Stellenwert einer kleinen Flucht in die Welt der Fantasie, mit der man sich von eigenen Ressentiments (starken negativen Gefühlen) zumindest kurzzeitig befreit.