Analyse einer Rezension zu dem umstrittenen Roman „Nichts“ von Janne Teller

  • Im Jahre 2000 erschien in Dänemark von Janne Teller ein Roman mit dem Titel „Intet“, der später auch ins Deutsch übersetzt und im Hanser-Verlag im Jahre 2010 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ veröffentlicht wurde.
  • Dazu erschien am 24.08.2010 eine Rezension von Sylvia Schwag, die man im Online-Archiv des Deutschlandfunks Kultur auf der folgenden Seite finden kann:
    https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-faszination-der-grausamkeit.950.de.html?dram:article_id=139077
  • Im Folgenden wird gezeigt, wie man eine solche Rezension wie jeden anderen Sachtext analysieren kann.
  1. In einem ersten Schritt stellt man das Objekt vor, nämlich die Rezension und ihren Bezugspunkt, den Roman der dänischen Schriftstellerin sowie schließlich die Übersetzung.
  2. Zur Vorstellung gehört normalerweise auch die Angabe des Themas, aber bei einer Rezension kann man eigentlich mit dem Hinweis begnügen, dass hier ein Roman in seinem Kontext von der Rezensentin vorgestellt wird. Allerdings kann es sinnvoll sein, den einen oder anderen zentralen Aspekt als Fragestellung mit hinzuzunehmen. In diesem Falle geht es um die Frage, ob ein Roman, der sich mit einem sehr extremen Experiment unter jungen Menschen beschäftigt, als Schullektüre geeignet ist.
  3. Anschließend wird die Struktur des Sachtextes, in diesem Falle der Rezension, erläutert:
    1. Eingestiegen wird mit dem Hinweis auf die Umstrittenheit des Romans, aus der zur Zeit der Rezension ein großer Erfolg geworden sei.
    2. Im nächsten Schritt wird der Inhalt kurz vorgestellt. Zunächst die Selbst-Absonderung des Schülers Pierre Anthon, der seine Mitschüler provoziert. An dieser Stelle hätte man gerne etwas genauer erfahren, was es mit den „kernigen Sprüchen“ auf sich hat. Ansatzweise erfährt man das, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Mitschüler Pierre als „zynischen Nihilisten“ sehen, also an einen Menschen, der an nichts glaubt, der auch nirgendwo etwas sieht, was einen wirklichen Wert hat. Früher hätte man gesagt: Nihilisten sind Leute, denen nichts heilig ist.
    3. Anschließend geht es um die Reaktion der Mitschüler, die Pierre beweisen wollen, dass es doch Dinge gibt, die einem etwas bedeuten. Das führt dazu, dass jeder etwas opfern soll, was für ihn wertvoll ist. Die Rezensentin verweist darauf, dass dieses Experiment beginnt zu „eskalieren“, also gewissermaßen rote Linien übersteigt, etwa, wenn „Sofie ihre Unschuld und Johan seinen Zeigefinger einbüßt“.
    4. Schließlich wird noch der Ausgang der Geschichte kurz vorgestellt. Die Rezensentin stuft das Ganze als „das gespenstische Komplott“ ein, das „endlich auffliegt“. Als Gipfel einer schrecklichen Entwicklung wird darauf hingewiesen, dass sich die „Presse und der Kunstmarkt“ auf den Fall stürzen, ihn also für ihre Zwecke ausnutzen. Sehr zurückhaltend, aber in der Sache wohl eindeutig, wird als Endergebnis feststellt, dass alle Jugendlichen ihren Glauben an irgendeine Bedeutung verlieren – und Pierre sein Leben.“ Besonders die sarkastische Schlussbemerkung lässt – typisch für eine Rezension – doch etwas Wesentliches offen. Denn eine Rezension soll ja die Lektüre nicht ersetzen, sondern sie ermöglichen und im Idealfall auch fördern.
  4. Nach dem Inhalt geht es um das Thema und die Intentionalität, also das Aussagepotential des Romans: Die Rezensentin formuliert als Themafrage die nach der Bedeutung von Dingen für Menschen.  In dem Zusammenhang wird der Autorin des Romans zuerkannt, dass sie „kompromisslos“ diese Fragen stellt. Die Idee der Schüler wird charakterisiert als der Versuch über den Zwang, persönlich Bedeutsames herzugeben, ihrem Mitschüler zu widersprechen, weil sich so ja Bedeutsames anzuhäufen scheint. Deutlich ist in diesem Zusammenhang die Klärung der Kernaussage des Romans, dass die Schüler „in ihrer blinden Bestialität“ gerade das Gegenteil erreicht haben, nämlich die Zerstörung von „Menschlichkeit. Vertrauen, Zuneigung“.
  5. Im nächsten Schritt wendet sich die Rezensentin dem Versuch zu, die Eigenart des Romans zu bestimmen: Sie versteht ihn als „Parabel über Mut und Feigheit, über den Sog und die Faszination von Grausamkeit, über die Verführbarkeit durch Ideologien und die Suche nach dem Sinn des Lebens“. Das Kernproblem wird also unter mehreren Aspekten erfasst: Es geht um negative Kräfte, die von außen die Integrität von Menschen bedrohen, vor allem um die Kraft von Ideologien dann um die Frage, wie man dem begegnen kann, und schließlich darüber hinaus ganz allgemein um eine Suche, die den Alltag der Existenz übersteigt.
  6. Im nächsten Schritt geht es dann um die sprachliche und erzählerische Umsetzung der Intention. Hier vergleicht die Rezensentin diesen Roman mit Morton Rhues „Die Welle“ oder William Goldings „Herr der Fliegen“. Als Gemeinsamkeit stellt sie fest, dass all diese Romane dem Leser das Gefühl geben, „einem hochexplosiven Experiment zuzusehen“. In diesem Zusammenhang erst wird die Ich-Erzählerin Agnes erwähnt, die das Geschehen „mit so abstruser Präzision und kalter Logik, so gleichgültig wie gnadenlos“ präsentiert, „dass sich unter fast jedem Satz ein moralischer bzw. menschlicher Abgrund auftut.“ Das ist so gut formuliert, dass es für sich selbst wirken kann. Vor allem aber sind auch solche Feststellungen Anreize, sich selbst davon durch die Lektüre ein Bild zu machen.
  7. Der Schluss der Rezension wendet sich wieder der Ausgangsfrage zu und geht gewissermaßen zum Gegenangriff gegen die Kritiker mit Hinweis auf die Unzumutbarkeit über. Für die Rezensentin ist dieser Roman „vielleicht besser zuzumuten als Erwachsenen“.  Als Begründung wird angegebene, dass junge Menschen „meist aufrichtiger sind und eher bereit, sich in Frage zu stellen“.
  8. Damit hat man auch schon einen Punkt für eine mögliche kritische Erörterung dieser Position. Dabei muss natürlich im Auge behalten werden, dass man das nur auf Grund dessen beurteilen kann, was die Rezensentin präsentiert.
  9. Ganz am Ende bekommt man noch den Hinweis auf drei verschiedene Betrachtungsmöglichkeiten des Romans, die ihn zugleich mit bestimmten Bereichen der Wissenschaft in Verbindung bringen. Für sie kann das Buch „als philosophische, psychologische oder soziologische Studie“ verstanden werden. Ergänzt wird das um die Möglichkeit, den Roman auch als „literarische Provokation“ zu begreifen.
  10. Sie selbst schließt mit der Annahme, dass niemand das Buch „unberührt“ „aus der Hand legen“ werde. Letztlich wird dadurch ausgedrückt, dass hier etwas geboten wird, was Menschen nicht nur an der Oberfläche trifft. Auch das ist ein guter Impuls für klärendes Selbst-Lesen.
  11. Insgesamt eine relativ kurze Rezension, die aber sehr gut die Thematik deutlich macht, den Roman einordnet und auf vielfältige Weise zum Lesen anregt. Damit erfüllt sie in vorbildlicher Weise das, was von einer Rezension erwartet werden kann.