Kafka, „Die Verwandlung“ – Abschnitt 14: Vernachlässigung, aber Betreuungstreit in der Familie

14. Abschnitt: Gregor wird vernachlässigt – Schwester will trotzdem Kontrolle über ihn behalten

Wir nehmen hier den Textausschnitt als Basis, der in der Form auf der folgenden Seite zu finden ist:
https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/verwandl/verwa014.html

Überblick über den Inhalt:

  1. Der Vater zeigt sich abends ziemlich hilfsbedürftig.
  2. Familie würde gerne in eine andere Wohnung ziehen, hat aber Angst vor Hoffnungslosigkeit
  3. Arme Familie muss angeblich schwer arbeiten, Gregors Wunde schmerzt, er wird allein gelassen.
  4. Gregors Schlaflosigkeit, möchte wieder die Familie versorgen, denkt an Vergangenheit, auch an Frauen, fühlt sich von denen allein gelassen
  5. Gregors Unzufriedenheit mit Essen, Sauberkeit, Vernachlässigung
  6. Schwester tut nichts für Gregor, verteidigt aber ihre Rolle dort -> Streit in der Familie, Gregor wütend darüber
  • „Sobald die Uhr zehn schlug, suchte die Mutter durch leise Zusprache den Vater zu wecken und dann zu überreden, ins Bett zu gehen […] Erst bis ihn die Frauen unter den Achseln faßten, schlug er die Augen auf, sah abwechselnd die Mutter und die Schwester an und pflegte zu sagen: »Das ist ein Leben. Das ist die Ruhe meiner alten Tage.« Und auf die beiden Frauen gestützt, erhob er sich, umständlich, als sei er für sich selbst die größte Last, ließ sich von den Frauen bis zur Türe führen, winkte ihnen dort ab und ging nun selbständig weiter, während die Mutter ihr Nähzeug, die Schwester ihre Feder eiligst hinwarfen, um hinter dem Vater zu laufen und ihm weiter behilflich zu sein.“
    • Hier taucht natürlich die spannende Frage auf, warum die Erzählung sich so lange mit dem Vater beschäftigt und hier vor allem mit dem Widerspruch seiner vorher gezeigten Stärke in der Uniform und seiner jetzigen Schwäche, verbunden mit Eigensinn.
    • Eine einfache Erklärung könnte sein, dass die positive Auswirkung der Uniform ein Anfangsphänomen war, das nicht lange angehalten hat. Der Vater merkt das auch und wehrt sich verständlicherweise gegen das, was er als Alterserscheinung und damit als Zeichen des Verfalls betrachtet.
    • Es gibt natürlich auch eine zweite mögliche These, nämlich die, dass es vor allen Dingen Aggressivität ist, die diesen Mann kurzzeitig stark erscheinen lässt. Was aber die normale Realität des Lebens angeht, sieht es ganz anders aus.
  • „Wer hatte in dieser abgearbeiteten und übermüdeten Familie Zeit, sich um Gregor mehr zu kümmern, als unbedingt nötig war? Der Haushalt wurde immer mehr eingeschränkt; das Dienstmädchen wurde nun doch entlassen; eine riesige knochige Bedienerin mit weißem, den Kopf umflatterndem Haar kam des Morgens und des Abends, um die schwerste Arbeit zu leisten; alles andere besorgte die Mutter neben ihrer vielen Näharbeit. […] Die größte Klage war aber stets, daß man diese für die gegenwärtigen Verhältnisse allzu große Wohnung nicht verlassen konnte, da es nicht auszudenken war, wie man Gregor übersiedeln sollte. Aber Gregor sah wohl ein, dass es nicht nur die Rücksicht auf ihn war, welche eine Übersiedlung verhinderte, denn ihn hätte man doch in einer passenden Kiste mit ein paar Luftlöchern leicht transportieren können; was die Familie hauptsächlich vom Wohnungswechsel abhielt, war vielmehr die völlige Hoffnungslosigkeit und der Gedanke daran, dass sie mit einem Unglück geschlagen war, wie niemand sonst im ganzen Verwandten- und Bekanntenkreis.“
    • Problematisierung der nur scheinbar verbesserten Situation im Bereich der Restfamilie wird hier vom Vater ausgeweitet auf alle drei. Man weiß nicht so genau, inwieweit Möglichkeit und Geldnot wirklich eine Rolle spielen oder ob Gregor sie nur zu sehen meint.
    • Aufschlussreich ist auf jeden Fall, wie deutlich dabei Gregor als Inbegriff des Unglücks für diese Familie angesehen wird. Seine früheren Leistungen werden in keiner Weise berücksichtigt.
    • Interessant, dass am Ende auch die Kombination aus Sorge vor Hoffnungslosigkeit und eine Art Opfergefühl die anderen Familien Mitglieder von einem Wohnungswechsel abhalten.
  • „Was die Welt von armen Leuten verlangt, erfüllten sie bis zum äußersten, der Vater holte den kleinen Bankbeamten das Frühstück, die Mutter opferte sich für die Wäsche fremder Leute, die Schwester lief nach dem Befehl der Kunden hinter dem Pulte hin und her, aber weiter reichten die Kräfte der Familie schon nicht. Und die Wunde im Rücken fing Gregor wie neu zu schmerzen an, wenn Mutter und Schwester, nachdem sie den Vater zu Bett gebracht hatten, nun zurückkehrten, die Arbeit liegen ließen, nahe zusammenrückten, schon Wange an Wange saßen; wenn jetzt die Mutter, auf Gregors Zimmer zeigend, sagte: »Mach‘ dort die Tür zu, Grete«, und wenn nun Gregor wieder im Dunkel war, während nebenan die Frauen ihre Tränen vermischten oder gar tränenlos den Tisch anstarrten.“
    • Der ganze Abschnitt ist wohl aus der Sicht Gregors verfasst.
    • Dementsprechend scheint er auch regelrecht mitzuleiden.
    • Der neu aufflammende Schmerz in der Wunde ist möglicherweise vor diesem Hintergrund zu verstehen.
    • Demgegenüber steht die Distanzierung von Gregor durch die Mutter am Schluss. Sie denkt wohl nur an sich und überlässt den Sohn seinem Schicksal in Dunkelheit.
  • „Die Nächte und Tage verbrachte Gregor fast ganz ohne Schlaf. Manchmal dachte er daran, beim nächsten Öffnen der Tür die Angelegenheiten der Familie ganz so wie früher wieder in die Hand zu nehmen; in seinen Gedanken erschienen wieder nach langer Zeit der Chef und der Prokurist, die Kommis und die Lehrjungen, der so begriffstützige Hausknecht, zwei, drei Freunde aus anderen Geschäften, ein Stubenmädchen aus einem Hotel in der Provinz, eine liebe, flüchtige Erinnerung, eine Kassiererin aus einem Hutgeschäft, um die er sich ernsthaft, aber zu langsam beworben hatte – sie alle erschienen untermischt mit Fremden oder schon Vergessenen, aber statt ihm und seiner Familie zu helfen, waren sie sämtlich unzugänglich, und er war froh, wenn sie verschwanden.“
    • Hier zeigt sich Gregors Reaktion – sein Helfer-Syndrom erwacht wieder und er will in seine alte Ich-opfere-mich-für-die-Familie-auf-Situation zurück. .
    • Besonders interessant ist, dass die Erinnerung an die Arbeit verbunden wird mit privaten Beziehungen.
    • Aber auch hier wird deutlich, dass es sich um nicht genutzte Chancen handelt, wie Gregor ja auch selbst zugibt.
    • Insgesamt macht dieser Absatz auf besondere Weise deutlich, was alles in diesem Leben schief gelaufen ist.
  • „Dann aber war er wieder gar nicht in der Laune, sich um seine Familie zu sorgen, bloß Wut über die schlechte Wartung erfüllte ihn, und trotzdem er sich nichts vorstellen konnte, worauf er Appetit gehabt hätte, machte er doch Pläne, wie er in die Speisekammer gelangen könnte, um dort zu nehmen, was ihm, auch wenn er keinen Hunger hatte, immerhin gebührte.
  • Ohne jetzt mehr nachzudenken, womit man Gregor einen besonderen Gefallen machen könnte, schob die Schwester eiligst, ehe sie morgens und mittags ins Geschäft lief, mit dem Fuß irgendeine beliebige Speise in Gregors Zimmer hinein, um sie am Abend, gleichgültig dagegen, ob die Speise vielleicht nur verkostet oder – der häufigste Fall – gänzlich unberührt war, mit einem Schwenken des Besens hinauszukehren.
  • Das Aufräumen des Zimmers, das sie nun immer abends besorgte, konnte gar nicht mehr schneller getan sein. Schmutzstreifen zogen sich die Wände entlang, hie und da lagen Knäuel von Staub und Unrat.
  • In der ersten Zeit stellte sich Gregor bei der Ankunft der Schwester in derartige besonders bezeichnende Winkel, um ihr durch diese Stellung gewissermaßen einen Vorwurf zu machen.
  • Aber er hätte wohl wochenlang dort bleiben können, ohne dass sich die Schwester gebessert hätte; sie sah ja den Schmutz genau so wie er, aber sie hatte sich eben entschlossen, ihn zu lassen.“
    • Zunächst ein Ansatz von Widerstand und Vertretung des eigenen Interesses.
    • Dem stehen zwei Absätze gegenüber, die das nachlassende Interesse und Engagement der Schwester zeigen.
    • Gregor versucht, dem entgegenzuwirken,
    • aber es ist hoffnungslos.
    • Hier wird deutlich, wie die Situation sich verändert: Zum einen meldet Gregor größere Ansprüche an.
    • Zum anderen tut die Schwester das genaue Gegenteil, sie vernachlässigt ihn.
  • „Dabei wachte sie mit einer an ihr ganz neuen Empfindlichkeit, die überhaupt die ganze Familie ergriffen hatte, darüber, dass das Aufräumen von Gregors Zimmer ihr vorbehalten blieb.
  • Einmal hatte die Mutter Gregors Zimmer einer großen Reinigung unterzogen, die ihr nur nach Verbrauch einiger Kübel Wasser gelungen war –
  • die viele Feuchtigkeit kränkte allerdings Gregor auch und er lag breit, verbittert und unbeweglich auf dem Kanapee –,
  • aber die Strafe blieb für die Mutter nicht aus.
  • Denn kaum hatte am Abend die Schwester die Veränderung in Gregors Zimmer bemerkt, als sie, aufs höchste beleidigt, ins Wohnzimmer lief und, trotz der beschwörend erhobenen Hände der Mutter, in einen Weinkrampf ausbrach,
  • dem die Eltern – der Vater war natürlich aus seinem Sessel aufgeschreckt worden – zuerst erstaunt und hilflos zusahen; bis auch sie sich zu rühren anfingen; der Vater rechts der Mutter Vorwürfe machte, dass sie Gregors Zimmer nicht der Schwester zur Reinigung überließ; links dagegen die Schwester anschrie, sie werde niemals mehr Gregors Zimmer reinigen dürfen;
  • während die Mutter den Vater, der sich vor Erregung nicht mehr kannte, ins Schlafzimmer zu schleppen suchte;
  • die Schwester, von Schluchzen geschüttelt, mit ihren kleinen Fäusten den Tisch bearbeitete;
  • und Gregor laut vor Wut darüber zischte, daß es keinem einfiel, die Tür zu schließen und ihm diesen Anblick und Lärm zu ersparen.“
    • Dieser Abschied macht deutlich, wie sehr die Situation um Gregor auch zu Streitigkeiten innerhalb der Familie.
    • Interessanterweise ist aber die Schwester die treibende Kraft, die immer mehr eine dominierende Position in der Familie einnehmen möchte.
    • Dem gegenüber kann es ja fast noch als positiv bezeichnet werden, dass die Mutter sich jetzt um Gregors Zimmer kümmert. Dabei fällt aber natürlich auf, dass dieser darunter eher leidet. Das hängt damit zusammen, dass man zwar einiges für ihn tun will, dies aber nicht wirklich mit Blick auf seine Bedürfnisse tut.
    • Am Ende steht Gregors Wut, dass er sich den Familienstreit mit ansehen muss. Er ist wohl sehr harmoniebedürftig.

Weiterführende Hinweise