Kafka, „Die Verwandlung“ – Abschnitt 16: Violinienspiel der Schwester – Kündigung der Zimmerherrn wegen Gregor

16. Abschnitt: Violinenspiel der Schwester und Kündigung der Zimmerherrn, als sie Gregor sehen

Wir nehmen hier den Textausschnitt als Basis, der in der Form auf der folgenden Seite zu finden ist:
https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/verwandl/verwa016.html

Überblick über den Inhalt und die wichtigsten Textstellen

  • Die Schwester spielt den Zimmerherren vor.
  • „Die Schwester bereitete alles ruhig zum Spiele vor; die Eltern, die niemals früher Zimmer vermietet hatten und deshalb die Höflichkeit gegen die Zimmerherren übertrieben, wagten gar nicht, sich auf ihre eigenen Sessel zu setzen; der Vater lehnte an der Tür, die rechte Hand zwischen zwei Knöpfe des geschlossenen Livreerockes gesteckt; die Mutter aber erhielt von einem Herrn einen Sessel angeboten und saß, da sie den Sessel dort ließ, wohin ihn der Herr zufällig gestellt hatte, abseits in einem Winkel.“
    • In diesem Abschnitt werden zwei Elemente oder auch Momente der Erzählung gegenübergestellt.
    • Mit dem Violinenspiel von Gregors Schwester, das ja vorher schon mal als Planung für ein besseres Leben, eine Rolle gespielt hat, ist es der Hinweis auf die Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens.
    • Demgegenüber stehen die realen Verhältnisse, besonders krass ausgedrückt durch den Verzicht auf das Recht, sich im eigenen Haus auch auf die eigenen Stühle setzen zu können.
    • Interessant auch der Hinweis, dass die Unterwürfigkeit der Familie auch damit zusammen hängt, dass sie bisher keine Erfahrungen im Umgang mit solchen Zimmer Herren gesammelt haben.
  • Interessant die Reaktion Gregors auf das Spiel:
  • „Gregor hatte, von dem Spiele angezogen, sich ein wenig weiter vorgewagt und war schon mit dem Kopf im Wohnzimmer. Er wunderte sich kaum darüber, dass er in letzter Zeit so wenig Rücksicht auf die andern nahm; früher war diese Rücksichtnahme sein Stolz gewesen.

Und dabei hätte er gerade jetzt mehr Grund gehabt, sich zu verstecken, denn infolge des Staubes, der in seinem Zimmer überall lag und bei der kleinsten Bewegung umherflog, war auch er ganz staubbedeckt; Fäden, Haare, Speiseüberreste schleppte er auf seinem Rücken und an den Seiten mit sich herum; seine Gleichgültigkeit gegen alles war viel zu groß, als dass er sich, wie früher mehrmals während des Tages, auf den Rücken gelegt und am Teppich gescheuert hätte. Und trotz dieses Zustandes hatte er keine Scheu, ein Stück auf dem makellosen Fußboden des Wohnzimmers vorzurücken.

    • Ein wichtiges Signal ist zunächst einmal, dass Gregor die wohl übergroße Rücksicht auf andere fallen lässt.
    • Das zweite wichtige Signal ist der noch größer gewordene Kontrast zwischen dem Schmutz im Zimmer oder im Körper Gregors auf der einen Seite und der Makellosigkeit des Restes der Wohnung.
    • Aber Gregor folgt dem, was für ihn im Augenblick wichtig ist.
  • „Allerdings achtete auch niemand auf ihn. Die Familie war gänzlich vom Violinspiel in Anspruch genommen; die Zimmerherren dagegen, die zunächst, die Hände in den Hosentaschen, viel zu nahe hinter dem Notenpult der Schwester sich aufgestellt hatten, so daß sie alle in die Noten hätten sehen können, was sicher die Schwester stören mußte, zogen sich bald unter halblauten Gesprächen mit gesenkten Köpfen zum Fenster zurück, wo sie, vom Vater besorgt beobachtet, auch blieben. Es hatte nun wirklich den überdeutlichen Anschein, als wären sie in ihrer Annahme, ein schönes oder unterhaltendes Violinspiel zu hören, enttäuscht, hätten die ganze Vorführung satt und ließen sich nur aus Höflichkeit noch in ihrer Ruhe stören.“
  • „Und doch spielte die Schwester so schön. Ihr Gesicht war zur Seite geneigt, prüfend und traurig folgten ihre Blicke den Notenzeilen. Gregor kroch noch ein Stück vorwärts und hielt den Kopf eng an den Boden, um möglicherweise ihren Blicken begegnen zu können. War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff ? Ihm war, als zeige sich ihm der Weg zu der ersehnten unbekannten Nahrung.“
  • „Er war entschlossen, bis zur Schwester vorzudringen, sie am Rock zu zupfen und ihr dadurch anzudeuten, sie möge doch mit ihrer Violine in sein Zimmer kommen, denn niemand lohnte hier das Spiel so, wie er es lohnen wollte. Er wollte sie nicht mehr aus seinem Zimmer lassen, wenigstens nicht, solange er lebte; seine Schreckgestalt sollte ihm zum erstenmal nützlich werden; an allen Türen seines Zimmers wollte er gleichzeitig sein und den Angreifern entgegenfauchen; die Schwester aber sollte nicht gezwungen, sondern freiwillig bei ihm bleiben; sie sollte neben ihm auf dem Kanapee sitzen, das Ohr zu ihm herunterneigen, und er wollte ihr dann anvertrauen, dass er die feste Absicht gehabt habe, sie auf das Konservatorium zu schicken, und dass er dies, wenn nicht das Unglück dazwischen gekommen wäre, vergangene Weihnachten – Weihnachten war doch wohl schon vorüber? – allen gesagt hätte, ohne sich um irgendwelche Widerreden zu kümmern. Nach dieser Erklärung würde die Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen, und Gregor würde sich bis zu ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen, den sie, seitdem sie ins Geschäft ging, frei ohne Band oder Kragen trug.
    • Nicht ganz klar ist die Bewertung des Spiels der Schwester. Gregor selbst ist ganz angerührt davon. Am ehesten dürfte wohl die Hypothese zu treffen, dass seine Interpretation des Verhaltens der Zimmerherrn wieder seiner negativen Grundeinstellung gegenüber sich selbst und seiner Familie entspricht.
    • Aber natürlich könnte es auch so sein, dass die Zimmerherrn tatsächlich nicht in der Lage sind, das Spiel der Schwester angemessen zu würdigen.
    • Interessant und eine gute Möglichkeit, den Deutschunterricht mal mit dem Biologieunterricht zu verbinden, ist die Frage, ob Tiere für Musik empfänglicher sind als Menschen.
    • Ansonsten fällt auf, wie Gregor sich völlig wirklichkeitsfremd eine gemeinsame Zukunft mit seiner Schwester in seinem Zimmer vorstellt.
    • Auch das ist letztlich wohl ein Zeichen für die immer größer werdende Diskrepanz zwischen realen und berechtigten inneren Wünschen und einer äußeren Wirklichkeit, die dafür keinen Spielraum gewährt.
    • Ganz nebenbei fällt noch auf, dass Gregor inzwischen jeden Zeitbezug verloren hat – er weiß nicht mal, ob Weihnachten schon vorüber ist.
  • „»Herr Samsa!« rief der mittlere Herr dem Vater zu und zeigte, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, mit dem Zeigefinger auf den langsam sich vorwärtsbewegenden Gregor. Die Violine verstummte, der mittlere Zimmerherr lächelte erst einmal kopfschüttelnd seinen Freunden zu und sah dann wieder auf Gregor hin.
  • Der Vater schien es für nötiger zu halten, statt Gregor zu vertreiben, vorerst die Zimmerherren zu beruhigen, trotzdem diese gar nicht aufgeregt waren und Gregor sie mehr als das Violinspiel zu unterhalten schien. Er eilte zu ihnen und suchte sie mit ausgebreiteten Armen in ihr Zimmer zu drängen und gleichzeitig mit seinem Körper ihnen den Ausblick auf Gregor zu nehmen.
  • Sie wurden nun tatsächlich ein wenig böse, man wusste nicht mehr, ob über das Benehmen des Vaters oder über die ihnen jetzt aufgehende Erkenntnis, ohne es zu wissen, einen solchen Zimmernachbar wie Gregor besessen zu haben.
  • Sie verlangten vom Vater Erklärungen, hoben ihrerseits die Arme, zupften unruhig an ihren Bärten und wichen nur langsam gegen ihr Zimmer zurück.
  • […]
  • Der Vater schien wieder von seinem Eigensinn derartig ergriffen, dass er jeden Respekt vergaß, den er seinen Mietern immerhin schuldete. Er drängte nur und drängte, bis schon in der Tür des Zimmers der mittlere der Herren donnernd mit dem Fuß aufstampfte und dadurch den Vater zum Stehen brachte. »Ich erkläre hiermit«, sagte er, hob die Hand und suchte mit den Blicken auch die Mutter und die Schwester, »dass ich mit Rücksicht auf die in dieser Wohnung und Familie herrschenden widerlichen Verhältnisse« – hierbei spie er kurz entschlossen auf den Boden – »mein Zimmer augenblicklich kündige. Ich werde natürlich auch für die Tage, die ich hier gewohnt habe, nicht das Geringste bezahlen, dagegen werde ich es mir noch überlegen, ob ich nicht mit irgendwelchen – glauben Sie mir – sehr leicht zu begründenden Forderungen gegen Sie auftreten werde.« Er schwieg und sah gerade vor sich hin, als erwarte er etwas. Tatsächlich fielen sofort seine zwei Freunde mit den Worten ein: »Auch wir kündigen augenblicklich.« Darauf faßte er die Türklinke und schloß mit einem Krach die Tür.“
    • Es kommt jetzt zum bereits erwarteten Eklat. Der sieht aber zunächst anders aus als beim Zusammenbruch der Mutter angesichts von Gregors neuem Erscheinungsbild. Gregor wird eher zunächst als eine Art Unterhaltungsgegenstand betrachtet, Der dem Violinenspiel vorgezogen wird.
    • Dann kommt aber doch, was kommen muss, nämlich der Auszug der drei Zimmerherren, der mit ziemlich dreisten Zusatzerklärungen verbunden wird.

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