Kafka, „Die Verwandlung“ – Abschnitt 9: Grund für die „Verwandlung“

Inhalt des 9. Abschnittes: Das Zusammenspiel falscher Interessen

Vorab-Information zu einem Video

Zu dieser Seite gibt es auch ein Video, in dem die „Voraussetzungen“ einer Schlüsselstelle aus dem 9. Abschnitt geklärt werden.

Das Video ist hier auf Youtube zu finden.

Die Dokumentation zum Video kann man hier herunterladen.

Mat1934 Analyse erzText-Einordnung-Verwandlung-A9

Im wesentlichen geht es dabei um den Unterschied zwischen der „Was-bisher-geschah-Klärung“ bei einer neuen Folge einer TV-Serie und der Klärung der Voraussetzungen einer zu analysierenden Textstelle:

Wie ist es zu Gregors Verwandlung gekommen?
Dieser Abschnitt zeigt, wie es zu einer folgenschweren Fehlentwicklung gekommen ist, die schließlich Gregor als „Ungeziefer“ aufwachen lässt.

  • Gregor erfährt beim Lauschen, dass sein Vater nicht nur aus seinem Bankrott eine schöne Summe Geldes retten und sogar durch Zinsen vermehren konnte,
  • sondern dass er auch noch einiges von dem, was Gregor reichlich zu Hause ablieferte, einfach dem Sparguthaben zugeschlagen hat.
  • Bevor man sich als Leser darüber aber aufregen kann, wird deutlich, dass Gregor sich um diese Rolle als Versorger der Familie regelrecht gerissen hat
  • und dass er es auch noch in der jetzigen Situation richtig findet.
  • Man merkt hier deutlich, dass er nur an andere und kaum an sich denkt.
    Hier lohnt es sich, das mal mit dem sogenannten „Helfersyndrom“ zu vergleichen:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Helfersyndrom
  • Es gibt allerdings eine Variante, nämlich die Absicht, der offensichtlich begabten Schwester eine Musikausbildung zu ermöglichen. Dazu kommt es dann aber nicht mehr und am Ende bleibt für die Schwester nur die zeitgenössische Standardrolle der Frau, nämlich die Heirat, womit offensichtlich alle Überlebenden glücklich sind.

https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/verwandl/verwa009.html

Nun die Schlüsselstelle:

  • „Schon im Laufe des ersten Tages legte der Vater die ganzen Vermögensverhältnisse und Aussichten sowohl der Mutter, als auch der Schwester dar.
    • Das ist sicherlich sehr vernünftig, denn der Hauptversorger der Familie ist ja offensichtlich ausgefallen.
    • Interessant aber, dass dieser Gedanke im Vordergrund steht,
    • nicht das Schicksal und das Wohlergehen Gregors.
  • Hie und da stand er vom Tische auf und holte aus seiner kleinen Wertheimkassa, die er aus dem vor fünf Jahren erfolgten Zusammenbruch seines Geschäftes gerettet hatte, irgendeinen Beleg oder irgendein Vormerkbuch. Man hörte, wie er das komplizierte Schloss aufsperrte und nach Entnahme des Gesuchten wieder verschloss.
    • Deutlich wird hier, in welchem Ausmaß der Vater das alles vor der Familie verheimlicht und abgesichert hat. Das spricht nicht gerade für Offenheit und Transparenz bzw. gemeinsame Verantwortung der Gesamtfamilie.
    • Das mag dem zeitgenössischen Umfeld geschuldet sein, aber auf jeden Fall ist es eine Missachtung der Interessen und Sorgen der anderen Familienmitglieder, was die finanzielle Lage angeht.
  • Diese Erklärungen des Vaters waren zum Teil das erste Erfreuliche, was Gregor seit seiner Gefangenschaft zu hören bekam.
  • Er war der Meinung gewesen, dass dem Vater von jenem Geschäft her nicht das Geringste übriggeblieben war, zumindest hatte ihm der Vater nichts Gegenteiliges gesagt, und Gregor allerdings hatte ihn auch nicht darum gefragt.
  • Gregors Sorge war damals nur gewesen, alles daranzusetzen, um die Familie das geschäftliche Unglück, das alle in eine vollständige Hoffnungslosigkeit gebracht hatte, möglichst rasch vergessen zu lassen. Und so hatte er damals mit ganz besonderem Feuer zu arbeiten angefangen und war fast über Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reisender geworden, der natürlich ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und dessen Arbeitserfolge sich sofort in Form der Provision zu Bargeld verwandelten, das der erstaunten und beglückten Familie zu Hause auf den Tisch gelegt werden konnte.
    • Gleich der erste Satz der Reaktion macht deutlich, wie einseitig und fremdbestimmt – im Hinblick auf Interessen – Gregors Sicht ist.
    • Deutlich wird hier, in welchem Ausmaß sich Gregor auf eine schon ungesunde Weise auf das Glück der anderen fokussiert hat.
    • Ganz offensichtlich ist sein ganzes Glück abhängig vom Erfolg und dessen Nutzung für die Familie.
  • Es waren schöne Zeiten gewesen, und niemals nachher hatten sie sich, wenigstens in diesem Glanze, wiederholt, trotzdem Gregor später so viel Geld verdiente, daß er den Aufwand der ganzen Familie zu tragen imstande war und auch trug.
  • Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie, als auch Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben.
    • Hier präsentiert Kafka literarisch eine Lebensweisheit, nämlich dass alles Gute seine Zeit hat und sich auf Dauer in etwas Negatives verwenden kann. Dankbarkeit ist ein flüchtiges Gut und wird schnell zu erhöhtem Anspruchsdenken.
    • Erstaunlich, wie die Beschenkten anscheinend ohne Wärme und nur mit Geld leben können.
  • Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie, die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen verstand, nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf die großen Kosten, die das verursachen mußte, und die man schon auf andere Weise hereinbringen würde, auf das Konservatorium zu schicken.
  • Öfters während der kurzen Aufenthalte Gregors in der Stadt wurde in den Gesprächen mit der Schwester das Konservatorium erwähnt, aber immer nur als schöner Traum, an dessen Verwirklichung nicht zu denken war,
  • und die Eltern hörten nicht einmal diese unschuldigen Erwähnungen gern;
  • aber Gregor dachte sehr bestimmt daran und beabsichtigte, es am Weihnachtsabend feierlich zu erklären.“
    • Hier wird deutlich, dass Gregor zumindest an einer Stelle über den Tag hinausdenkt und wirklich die möglichen Interessen der anderen im Blick hat.
    • Interessant, dass das von der Schwester nicht als realistische Möglichkeit aufgenommen
    • und von den Eltern eher abgelehnt wird.
    • An dieser einzigen Stelle merkt man, dass Gregor auf seiner Linie bleibt. Allerdings waren die Gegenkräfte wohl stärker, so dass es zur „Ungeziefer“-Verwandlung mit ihren Folgen kam.

Weiterführende Hinweise