Allgemeines Analyse/Interpretationsmodell: Beispiel Kurzgeschichte

Anwendung des allgemeinen Interpretationsmodells auf eine Kurzgeschichte

In vielen Schulbüchern und zum Teil auch im Deutschunterricht gibt es viele Interpretations-Checklisten. Man hat den Eindruck: Für jede Gattung eine eigene. Das ist natürlich nicht falsch. Wir zeigen aber, wie man von einem Modell für alle Textsorten ausgehen kann. Das heißt: Weniger lernen, aber mehr verstehen.

Wir haben dazu auch ein Video gemacht  (Link weiter unten). Dabei wird schön deutlich dass die Analyse und Interpretation einer Kurzgeschichte zum größten Teil genauso abläuft wie bei anderen Texten.

Man sieht das an den grün eingefärbten Punkten.

Rot ist das, was bei Kurzgeschichten keine Rolle spielt.

Und blau ist das, was speziell bei Kurzgeschichten eine Rolle spielt.

Link zum Video und zur entsprechenden Dokumentation:

Videolink
Die Dokumentation kann hier heruntergeladen werden:

Im Vergleich zum Video haben wir hier eine kleine Änderung eingebaut:

  • Wir ziehen die Prüfung, inwiefern und inwieweit es sich um eine Kurzgeschichte handelt, in den Bereich der Interpretation – also weg von den sprachlich-erzählerischen Mitteln.
  • Außerdem verweisen wir noch auf die Erzählhaltung, die personal ist. Es gibt also keine Einmischung durch den Erzähler, sondern alles wird aus der Sicht der Figuren erzählt – vor allem der Sicht der Frau.

Zu den Details:

Das allgemeine Modell:

  1. Klärung der Gattung – hier: Kurzgeschichte
  2. Angabe von Titel, Verfasser, ggf. Entstehungszeit
    • Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert mit dem Titel „Das Brot“.
    • Sie wurde am 13.11.1946, also wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der „Hamburger Freien Presse“ veröffentlicht, also in einer Zeitung oder Zeitschrift.
  3. Klärung des Themas – als Fragestellung
    • Thema der Kurzgeschichte ist die Frage, wie ein Ehepaar in einer Notsituation mit dem gemeinsamen Brotvorrat umgeht, nachdem der Mann sich nachts heimlich ein zusätzliches Stück Brot abgeschnitten hat, was die Frau mitbekommt.
  4. Deutungshypothese:
    erste Formulierung von Aussage und Bedeutung

    • Die Kurzgeschichte zeigt zum einen den peinlichen Versuch des Mannes, sein heimliches Brotessen vor seiner Frau zu verbergen. Zum anderen wird deutlich, wie schonend die Frau damit umgeht. Am Ende zeigt sie sich sogar so großzügig, ihrem Mann etwas von ihrem Brotanteil abzugeben.
  5. (äußere Form = entfällt bei Kurzgeschichte)
  6. Einteilung der Kurzgeschichte in Abschnitte
    • 01-15: Frau wacht auf und ertappt ihren Mann.
    • 16-32: Lügen des Mannes und scheinbares Mitmachen der Frau, ergänzt durch wechselseitige Betrachtung im Hinblick auf das Alter
    • 33-44: Vorläufige Auflösung des Problems durch Hilfestellung und Wegsehen der Frau
    • 45-57: Weitere Lügen des Mannes und Mitmachen der Frau
    • 58-67 Vorläufige Regelung des Brotproblems durch die Frau durch Verzicht auf eigene Scheibe, erklärt ebenfalls mit einer Not-Lüge.
  7. Erläuterung der einzelnen Abschnitte:
    Was wird erzählt?
    (Achtung: Keine Inhaltsangabe oder gar Nacherzählung)

    • Abschnitt 1 = Ausgangssituation bis zur Erkenntnis des Problems durch die Frau
    • Abschnitt 2 = Scheingespräch über den angeblichen Grund für den Besuch in der Küche
      ergänzt durch eine spiegelbildliche Betrachtung des Partners im Hinblick auf das Alter, jeweils mit dem Versuch, sich das schön zu reden
    • Abschnitt 3: Auflösung der Spannungssituation durch das Eingreifen der Frau und Bemühen um Selbstkontrolle
    • Abschnitt 4: Im Schlafzimmer: Fortführung der Lügen des Mannes und der schonenden Reaktion der Frau mit einem relativ guten Schluss: Die Frau kann vom Kauen des Mannes einschlafen.
    • Abschnitt 5: Großzüge Regelung durch die Frau, verbunden mit einer kleinen Notlüge – mit der Entstehung des klaren Gefühls des Mittleids bei einem Ansatz von Scham beim Mann. Dies ermöglichst am Ende die Annäherung unter der Lampe.
  8. Zusammenfassung des Inhalts zu Aussagen der Kurzgeschichte (Intentionalität)
    • Die Geschichte zeigt
      1. Das Entstehen einer peinlichen Situation durch den Übergriff des Mannes auf das gemeinsame Brot
      2. Das Mitmachen der Frau bei der Lügenerklärung, was einen Konflikt verhindert
      3. Ein starkes gemeinsames Signal der Partnerschaft: Erkennen des Alterungsprozesses beim anderen und Bemühen um Beschönigung; Verstärkung dieses Signals durch das vertraute Einschlafenkönnen der Frau, während ihr Mann heimlich Brot kaut.
      4. Die unterschiedlichen Reaktionen der Partner: Mann hilflos, Frau enttäuscht, aber hilfsbereit, was schließlich zu einem großzügigen Angebot der Frau im Hinblick auf die Brotverteilung führt.
      5. Am Ende Annäherung der Frau an ihren Mann über ihr aufkommendes Mitleid mit ihrem schwachen, sich schämenden Mann.
  1. Klärung der sprachlichen und erzählerischen Mittel, die auffallen und möglichst die Aussagen unterstreichen
    Punkt: Inwiefern und inwieweit Kurzgeschichte?

    • Kurze Sätze am Anfang, die dem fortlaufenden Erkenntnisprozess der Frau entsprechen
    • Zeile 14-15: „Kälte der Fliesen“ als Zeichen für die innere Kälte, die die Frau angesichts der Enttäuschung über ihren Mann empfindet
    • Wechselseitige Altersempfindung als Zeichen für das gemeinsame, positive Denken im Hinblick auf den anderen
    • Bestimmte Aktivitäten der Frau, um das Problem zu überdecken: 31: Krümel, Lichtschalter
    • Das Einschlafen beim Kauen als Zeichen für Vertrautheit und Ansatz von Verzeihung
    • 63ff: Zusammenhang von Sich-tief-Beugen beim Mann und aufkommendem Mitleid
    • 61/2 und 66 Wiederholung der Notlüge der Frau
    • Symbolisches Sich-zu-dem-Mann-ins-Licht-Setzen als Zeichen für erneute Nähe; die Frau hält das Licht jetzt wieder aus,
    • Licht und Dunkel als Leitmotiv
    • Weiteres Leitmotiv: Lüge – echte des Mannes und hilfreiches Mitlügen der Frau
  2. Auswertung der Kurzgeschichte: Bedeutung, Zusammenhänge (bsd. Gattung)
    • Es geht um den Missbrauch von Vertrauen durch einen Partner und den Umgang des anderen mit Enttäuschung
    • Bemerkenswert die Aktivitäten dieser starken Frau, um ihren schwachen Partner zu schonen
    • Offen bleibt die Frage, ob und wie der Mann zu seinem Teil einer Rückkehr zu echter Partnerschaft kommt.
    • Was die Gattung Kurzgeschichte angeht:
      • Insgesamt ein kurzer Ausriss aus dem gemeinsamen Leben dieses Ehepaars
      • Direkter Einstieg – Vorgeschichte später ansatzweise erwähnt, 39 Jahre Ehe
      • Offenes Ende, denn das Problem ist ja nur zur Hälfte gelöst, jetzt fehlt noch das Geständnis des Mannes

Wer noch mehr möchte …