Lessings Ringparabel
- Es handelt sich um eine sogenannte „Parabel“, also eine ausgedachte Geschichte, die etwas verdeutlichen soll. Der Grund für den Umweg können Erkenntniswiderstände sein wie beim biblischen König David, der nur so einsieht, dass er ein Mörder ist (am General Uria). Es kann aber auch Vorsicht sein, weil Mächtige missliebige Wahrheiten möglicherweise bei ihrem Verkünder bestrafen. Genau das deutet die Hauptfigur des Dramas „Nathan der Weise“ an, wenn sie zunächst beim muslimischen Sultan um ein bisschen Bedenkzeit für die Beantwortung der heiklen Frage, welches die richtige Religion sei, bittet. Anschließend sagt Nathan ganz deutlich: „Doch, Sultan, eh‘ ich mich dir ganz vertraue, / Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu erzählen?“
- Dann wird eine Geschichte erzählt von drei Ringen, von denen zwei gar nicht die Wunderkraft haben können, auf die die Erben hoffen. Nur einer ist in der Geschichte echt – und nur der tote Vater weiß, welcher es ist. Der Sultan versteht natürlich sofort, dass es hier um die drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam (in der Reihenfolge ihrer Entstehung) geht.
- Es gibt Streit – auch das entspricht der Wirklichkeit der Religionen.
- Die Söhne gehen wegen der Ringe zu einem Richter – da hört der Vergleich natürlich auf, denn einen solchen kann es bei Religionen nicht geben, solange nicht Gott selbst am Ende aller Tage spricht.
- An dieser Stelle nun der geniale Kunstgriff des von Nathan und indirekt von Lessing geschaffenen Richters: Der macht die Echtheit der Ringe und damit indirekt der Religion nicht an der Wahrheit fest, sondern an der Wirklichkeit. Der Ring, der eine gute Wirkung hat, ist der richtige. Und die Söhne sollen sich anstrengen.
- Sicherheitshalber verlegt er den Ablauf der Prüfung weit in die Zukunft – und der Sultan versteht das auch gleich richtig: Es kommt gar nicht auf die Wahrheit der Religionen an, sondern eben auf ihre gute Wirkung.
- Das ist natürlich eine typische Lösung der Optimisten der Aufklärung – die glaubten ja, mit der Vernunft alles positiv regeln zu können. Die Zukunft lehrte dann, dass sich weder schreckliche Kriege noch Verbrechen bis zum Völkermord verhindern ließen.
- Aber zumindest das Verhältnis der Menschen untereinander könnte sich mit Vernunft ein bisschen besser regeln lassen.
- Nur – Lessing hat wohl keine Ahnung von der unbändigen Kraft mancher Religionen. Nicht von ungefähr hängt das Wort „Religion“ mit Bindung zusammen – und auch das frühe Christentum entwickelte sich schnell in die Richtung, alle unter seine Glaubensmacht zu zwingen.
- Wahrscheinlich ist es ein schon ein Zeichen für die Ermüdung des christlichen Abendlandes gewesen, dass jemand wie Lessing ein solches Drama als Richtschnur für seine Gegenwart und die Zukunft schreiben konnte. Gerade die aktuelle Diskussion um den Islam zeigt, dass es sich bei ihm erstaunlicherweise immer noch oder jetzt wieder um eine Religion handelt, bei denen wohl die meisten Gläubigen den Alleinvertretungsanspruch des Korans auch ernst nehmen – ganz gleich, ob das anderen gefällt oder nicht.
- Ergänzung: Ein kleines oder großes Problem in diesem schönen „Märchen“?
- Der Vater löst sicher sein Problem erst mal elegant, indem er jedem Sohn einen Ring gibt, so dass der glaubt, dass er der einzige ist, der den richtigen Ring bekommt.
- Das ist natürlich unendlich kurzsichtig, weil genau das geschehen wird, was dann auch erzählt wird: Die behalten ihr Glück nicht für sich, sprechen drüber und schon gibt es Streit.
- Wenn nun ein richtiger Ring dabei gewesen ist, muss er doch bei seinem Träger etwas bewirken – aber das wird in der Geschichte gar nicht erwähnt.
- Sollte also immer schon die Wirkung des richtigen Ringes allein durch entsprechenden Glauben erzielt worden sein? Ein schöner Gedanke, der dem Aufklärer Lessing, der nicht an Wunder glaubt, sicher gut gefallen hat.
- Aber: Wer sich auch nur ein bisschen bei Menschen auskennt, der weiß, dass ein solcher Glaube, wenn er denn mit entsprechenden Verhaltens-Verpflichtungen verbunden ist, nicht lange anhält. Das dürfte wohl der Fehler in dieser Geschichte sein.
- Letztlich hat also die besondere Dreier-Lösung das nur aufgedeckt, denn alle drei streiten ja auf gleiche Weise – und ab dann ist es vorbei mit dem Wunderglauben und man muss an etwas anderes glauben – und der Richter zeigt da ja auch einen Weg auf.
- Es bleibt das Problem, warum das früher anscheinend immer funktioniert hat: Wahrscheinlich war der Glaube so groß, dass man das Wunder auch noch gesehen hat, wo es real gar nicht mehr da war.
Zusammenfassung wichtiger Aspekte im Umfeld der Ringparabel:
Bedeutung der Ringe:
Der Streit der Söhne
Funktion des Richters:
Lessings Vorstellung von der Bewertung einer Religion
Lessings Forderung an die Vertreter einer Religion:
Lessings Negativ-Urteil:
Nathan als Vorbild?
- Sicher kann Nathan ein Vorbild für das äußere Zusammenleben der Menschen verschiedener Religionen sein – aber nicht für den inneren Glauben von Menschen, der gehorcht ganz anderen Gesetzen. Hier geht es um die individuelle Vorstellung zum Beispiel von Seelenheil – und da sind die meisten Religionen doch sehr auf sich selbst konzentriert.
- Man könnte auch sagen: Lessings Ratschlag in der Ringparabel entspricht einer Lehrkraft, die Schüler, die sich prügeln, auseinanderbringt und dann begütigend sagt: „Seid doch einfach nett zueinander – und wen eure Mitschüler für den nettesten von euch halten, der hat gewonnen.“
- Das wirkliche Problem könnte zum Beispiel sein, dass alle Schüler A für den nettesten halten und B darunter leidet, ihn sogar für arrogant hält und es ihm in der Prügelei mal richtig „zeigen“ wollte. Das sind die wirklichen Probleme von Menschen, bei denen verschiedene Wahrheiten aufeinanderstoßen.
Hinweis auf einen Paralleltext zu Lessings Parabel
„Islam – Sufismus“
[Hier geht es um eine spezielle Glaubensrichtung im Islam, die die festgelegten Regeln weniger ernst nimmt als eine innere Beziehung zu Gott.]
„Der sufische Dichter Sana’i von Ghazna († 1131) verwendete die Geschichte in seinem Buch Ḥadīqat al-ḥaqīqat („Der Garten der Wahrheit“) als Parabel für die Unfähigkeit der Menschen, Gott gänzlich zu begreifen.
Dschalal ad-Din ar-Rumi war ein persischer Dichter, Jurist, Theologe und Lehrer des Sufismus im 13. Jahrhundert. Rumi schrieb in seiner Version des Gleichnisses „Der Elefant in der Dunkelheit“ in der Gedichtform Masnawī dieser Geschichte einen indischen Ursprung zu. In seiner Version stellen einige Inder einen Elefanten in einem abgedunkelten Raum aus.“
[Hier geht es um ein Ziel, das dem in Lessings Ringparabel ähnlich ist. Während dort aber eher die Frage der Wirkung göttlicher Wahrheit im Vordergrund steht, geht es hier um das Bild, das man sich von Gott macht – und das eben die Religionen stark von einander trennen und Gegensätze oder gar Feindschaften hervorbringen kann.]
„In der Übersetzung durch A. J. Arberry, befühlen einige Männer den Elefanten in der Dunkelheit. Je nachdem wo sie ihn befühlen, glauben sie, der Elefant sei ein Wasserschlauch (Rüssel), ein Fächer (Ohr), eine Säule (Bein), und ein Thron (Rücken). Rumi verwendet dieses Gleichnis als ein Beispiel für die Grenzen der individuellen Wahrnehmung.
Das wahrnehmende Auge ist genau wie die Handfläche. Die Hand ist nicht in der Lage, das Tier in seiner Gesamtheit zu begreifen.“
[Hier wird eine Kurzfassung der Erzählung geboten. Eine längere Fassung findet man zum Beispiel hier:
https://www.lichtkreis.at/gedankenwelten/weise-geschichten/blinde-und-elefant/
oder auch
https://www.zeitblueten.com/news/die-fuenf-gelehrten-und-der-elefant/
…]
In Wikipedia heißt es dann weiter:
„Rumi präsentiert keine Lösung des Konflikts in seiner Version, bemerkt aber:
Der Blick auf das Meer ist eine Sache und die Gischt eine andere. Vergiss die Gischt und blicke nur auf das Meer. Tag- und Nachtgischt stieben auf vom Meer : Wunderbar ! Du betrachtest die Gischt, aber nicht das Meer … unsere Augen sind verdunkelt und doch sind wir in klarem Wasser.“
[Hier wird auf jeden Fall deutlich, dass die Gegensätze zwischen den Religionen verschwinden, wenn sie als Teilwahrheiten eines größeren Ganzen begriffen werden.]
Fassen wir noch einmal zusammen:
Lessings Ringparabel und die Elefantenparabel, deren Urquelle nicht bekannt ist, haben das gleiche Ziel, nämlich die Unterschiede zwischen den Religionen nicht zu Konflikten werden zu lassen, vielmehr Toleranz und Achtung anderer Überzeugungen zu fördern.
Dabei werden unterschiedliche Akzente gesetzt:
Lessing geht ganz aufklärerisch, fast schon wissenschaftlich-empirisch an die Sache heran: Wahr ist das, was funktioniert. Das Raffinierte daran, dass das dann indirekt mit einem moralischen Appell verbunden ist: Bemüh dich drum, die beste Wirkung hervorzubringen.
Bei der Elefantenparabel geht es weniger um Wirkung und Anstrengung, sondern um die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit. Gott wird hier ernst genommen als das wirklich Übermenschliche.
Das hat viel zu tun mit einer Stelle aus dem Brief des Paulus an die Philipper (4,7):
„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft …“
Und es passt natürlich zu unserer heutigen Vorstellung von einer evolutionären Entwicklungsgeschichte des Menschen, die ihn nicht gottgleich macht, sondern allenfalls gottähnlich – was man auch mit Mephistos Worten über den Menschen in Goethes „Faust“ so sehen kann:
„Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.
Ein wenig besser würd er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“
Zu finden u.a. in: http://gutenberg.spiegel.de/buch/faust-eine-tragodie-3664/3
Am Ende sollten die Menschen sich vielleicht doch mehr mit der Zurückdrängung des Negativ-Tierischen in ihnen beschäftigen als mit dem Versuch, sich über den Mitmenschen zu erheben, was dessen Gottesvorstellung angeht.