21: 1914-1918: Der Erste Weltkrieg für Durchblicker

21: 1914-1918 – der Erste Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Auch wenn die Zeit des Nationalsozialismus ab 1933 zu Recht wegen ihrer schrecklichen Folgen für Millionen Menschen heute noch im Zentrum der historischen Erinnerung steht, ändert das nichts daran, dass die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts bereits ihre Grundlage eine Generation früher hatten. Von daher ist es überaus gerechtfertigt, den Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts zu betrachten.

1.1       Der Erste Weltkrieg – ausgelöst durch eine Automatik der Bündnisse

Als im Sommer 1914 – angestiftet von Serbien – der österreichische Thronfolger in Sarajevo ermordet wurde, nutzte zunächst Österreich und dann das von seinem Kaiser nicht genügend gebremste Deutsche Reich die Gelegenheit für den Plan, in einer äußerst risikoreichen Politik die gegnerische Koalition zu zersprengen.

In einem ersten Schritt sollte das mit Russland befreundete Serbien bestraft und als Machtfaktor ausgeschaltet werden. Das ging aber schon schief, weil Russland das nicht hinnehmen wollte. Als es seine Armee mobilisierte, meinte wiederum die deutsche Armeeführung, gegen Frankreich losschlagen zu müssen, um nach einem angenommenen schnellen Sieg im Westen alle Truppen nach Osten werfen zu können. Man kennt das als den berühmten „Schlieffen-Plan“.

Interessant ist die Frage, wer wieviel Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges trägt: Während die Deutschen nach ihrer Niederlage verständlicherweise alles taten, um sich von dem im Versailler Vertrag erhobenen Schuldvorwurf zu befreien, traf sie 1961 gewissermaßen der Hammer. Der Historiker Fritz Fischer behauptete in seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“, es habe eine entsprechende Strategie der deutschen Regierung gegeben, was die Kriegsschuldthese zu erhärten schien.

Was in kaum einem anderen Land der Welt denkbar ist: Viele im Hinblick auf Politik und Geschichte engagierte bzw. interessierte Deutsche fühlten sich irgendwie wohl, fast befreit bei diesem Gedanken, obwohl er schon ihr Land von 1914 zu einem negativen Ausnahmefall der Weltgeschichte machte. Für viele Jahrzehnte galt Fischers These als bestätigte Basis des Verständnisses der deutschen Geschichte zumindest des 20. Jahrhunderts.

Umso interessanter ist es, wie unbefangen und differenziert-abgewogen die Historiker anderer Länder und besonders aus Großbritannien den Deutschen behilflich sind, doch irgendwie als ganz normale Menschen zu erscheinen, die natürlich auch Fehler machen, aber nicht ohne Hintergrund und damit auch zumindest Mitschuld anderer. Im September 2013 war es dann mal wieder so weit: Der englische Historiker Christopher Clark veröffentlichte eine Untersuchung über die Ursachen des Ersten Weltkrieges, in der die alte These  des englischen Premierministers David Lloyd George, die Völker Europas seien „in den Weltkrieg hineingeschlittert“, neu aufgenommen wurde. Schuld sind danach eben nicht mehr allein weltmachtwahnsinnige Deutsche, sondern eine ganze Politikergeneration von Paris über London, Berlin, St. Petersburg bis nach Wien, die zu viel gefährliche Stärke zeigten, weil sie sich eigentlich schwach fühlten.

Mal sehen, wann sich die deutschen Schulbücher im Fach Geschichte auch in dieser Frage mehr um differenzierte Wahrheit als um masochistische Selbst-Kasteiung bemühen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass immerhin eine der angesehensten Zeitungen in Deutschland, die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Leitartikler Jasper von Altenbockumam am 2.1.2014, also zu Beginn des Jubiläumsjahres, auf der ersten Seite zusammenfassend feststellen lässt:

„Das Jubiläum fällt nun damit zusammen, dass die „Schuldfrage“ nicht mehr so beantwortet wird, wie das hundert Jahre üblich war. Die neue Formel, auf die sich ein Konsens der Historiker stützt, könnte stark verkürzt lauten: Es war nicht das Deutsche Kaiserreich, das diesen Krieg entfesselte, sondern alle europäischen Großmächte hatten gleichermaßen einen großen Anteil an der Katastrophe.“

Der Blick auf die Wirklichkeit scheint sich also zu entkrampfen, von neurotischen Verengungen zu befreien. Die Vorstellung, im Falle der Deutschen gäbe es denn noch eindeutige Schwarz-Weiß-Verhältnisse, die keinem anderen Volk der Welt zugemutet werden, verschwindet langsam. Auch für sie gibt es jetzt die Chance auf gemischte Verhältnisse, auch was die Ursachen und Fragen der Schuld angeht. Der Preis für ihr (!!!) Versagen im Jahr der Entscheidung 1914 bleibt hoch genug, einschließlich der Zinsen bis mindestens 1989/90 und anscheinend noch darüber hinaus, wenn auch sich langsam abschwächend und auslaufend.

Wer übrigens etwas tiefer einsteigen will in die Gefühlslage der Deutschen zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der hat dazu zur Jahreswende 2013/2014 in Bonn Gelegenheit. Dort gibt es nämlich bis zum 23.2.2014 in der Kunsthalle eine Ausstellung zum Thema „1914. Die Avantgarden im Kampf“. Dort wird deutlich, in welchem Ausmaß auch die angeblich so hellsichtigen Künstler von den Aussichten eines Krieges blenden ließen: In einem sehr informativen Artikel in der FAZ vom 9.11.2013 heißt es dazu auf S. 34: „Max Beckmann war der Ansicht, dass seine Kunst nun endlich „zu fressen“ kriege, Otto Dix gierte es nach den ‚Untiefen’ menschlichen Daseins, Franz Marc erhoffte sich ein reinigendes Gewitter für das verkommene Europa, Kokoschka hielt das Ganze für einen großen Abenteuerspielplatz, Klee dagegen für eine Zirkusvorstellung, deren malerische Verarbeitung Geld in seine leere Kasse zu spülen versprach.“

Eine interessante Differenzierung des Blicks schlägt Peter Graf Kielmansegg in einem Artikel „Schuld und Halbschuld“ der FAZ vom 30.06.2014 vor. In einem ersten Schritt prüft er die Entscheidungen der Akteure – mit für Deutschland und vor allem Österreich-Ungarn nach wie vor vernichtenden Ergebnis: „Sie haben, wenn auch durch das Attentat provoziert, agiert, die anderen reagiert.“ Schwieriger wird es schon, wenn man die „komplexen Entscheidungskonstellationen“ betrachtet – hier hatten nach Meinung des Verfassers die Entente-Mächte größere Spielräume als die sich von ungünstigen Entwicklungen bedroht und eingekreist fühlenden Mittelmächte. Am wichtigsten ist wohl die dritte, weil grundlegende Ebene, nämlich die allgemeine Stimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa: „Nichts fällt beim Studium der Quellen mehr auf als dieser gemeineuropäische Fatalismus.“ Lediglich bei England sieht der Autor „ein Bewusstsein von einer gemeinsam wahrzunehmenden Friedensverantwortung“ – dieses verschwand dann, als die erste und zweite Ebene Deutschland zu seinen Kriegserklärungen an Russland und Frankreich und zum Einmarsch in Belgien verleitete.

1.2       Das Scheitern der deutschen Hoffnungen

Man weiß, wie die Geschichte ausgegangen ist: der schnelle Sieg im Westen gelang nicht, dafür hatte man wegen des planbedingten Einmarsches in Belgien auch noch England als Feind am Hals. Es kam zu einem zermürbenden Stellungskrieg und zum immer aggressiveren Einsatz der U-Boot-Waffe gegen die englische Blockade. Dies führte dann zum Kriegseintritt der USA, was am Ende die Niederlage Deutschlands unvermeidlich machte, auch wenn zwischenzeitlich durch die Revolution in Russland dieses Land aus dem Krieg ausschied.

Wer übrigens wirklich begreifen will, was „Stellungskrieg“ bedeutete, dass dazu nicht nur gehörte, knietief im Schlamm in einem Graben zu stehen, sondern auch durch schmale Löcher in enge unterirdische Höhlenräume kriechen zu müssen, immer in der Angst, verschüttet zu werden, der sollte sich die entsprechenden Passagen in Jörn Leonhards Buch „Die Büchse der Pandora : Geschichte des Ersten Weltkriegs“ (München: Beck 2014) anschauen.

1.3       Das Ende des Krieges und seine Folgen

Am Ende lagen drei Kaiserreiche am Boden, dafür bestand die Chance, „to make the world safe for democracy“, wie es der amerikanische Präsident Wilson formulierte. Aber nicht er setzte sich im Versailler Vertrag durch, sondern das auf Wiedergutmachung und Niederhaltung Deutschlands setzende Frankreich. Dies führte, verbunden mit der Angst vor der kommunistischen Revolution, wie sie sich in Russland präsentiert hatte, zur Entstehung von Faschismus bzw. Nationalsozialismus, was schließlich einen noch viel schlimmeren zweiten Weltkrieg auslöste.

An dieser Stelle sei auf einen besonderen Aspekt der Kriegsschuldfrage hingewiesen. Durchaus üblich ist der Vergleich des Versailler Vertrags mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses, die mit ihrem Bemühen um Ausgleich (was Schonung Frankreichs bedeutete) immerhin dazu geführt haben, dass fast 100 Jahre lang kein großer Krieg in Europa mehr stattfand. Kaum im Bewusstsein ist aber, in welchem Ausmaß man 1648 bemüht war, Wunden zu schließen, indem man sogar eine Generalamnestie für alle Untaten und Verbrechen mit aufnahm. Bedauerlicherweise muss man auf solche Aspekte erst durch sehr randständige Youtube-Dokumentationen wie die folgende aufmerksam gemacht werden:

https://www.youtube.com/watch?v=tZGTDK0E8oQ

Die dort behaupteten Zusammenhänge zwischen den Forderungen nach einer Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld der Deutschen bzw. der Mittelmächte mit dem Rigorismus der Frühgeschichte der USA zwischen Ausrottungspolitik gegenüber den Indianern und der Politik der sog. „reconstruction“ nach dem Bürgerkrieg können hier nicht überprüft werden. Schon auf den ersten prüfenden Blick scheinen sie auch nicht zu Wilsons idealistischen und auf Ausgleich bedachten 14-Punkten zu passen. Sie bleiben aber interessante Denk- und Forschungsanstöße, die helfen könnten, geschichtlich schwierige Fragen aus den immer gleichen Diskussionsnormen herauszulösen.

1.4      Exkurs: Starb Europa in Sarajewo?

Geschichte hat sicher die Funktion, über Ursachen und falsches Verhalten nachzudenken, auch wenn man nur begrenzt daraus lernen kann. Vor allem aber hält sie auch das Potenzial von Alternativen bereit – und da ist es schon eine interessante Frage, ob dieses Habsburgerreich als Vielvölkerstaat vielleicht ein Urbild eines nicht mehr auf Nationen fixierten Europas hätte werden können. Vor allem der in Sarajewo ermordete Thronfolger Franz Ferdinand hatte sehr gute Absichten, wollte vor allem die Slawen stärker an der Regierung des Gesamtstaates beteiligen. Dementsprechend gering war die wirkliche Trauer über seinen frühen Tod. Aber der Kronprinz wäre vielleicht mit seinen Reformideen nicht nur an den politischen Machtverhältnissen gescheitert, er war auch eine psychisch stark belastete Figur, die ihre Seelenqualen vor allem auf der Jagd auslebte – er soll in seinem kurzen Leben 274 889 Stück Wild erlegt haben, wie in einer Rezension von Ludwig Winders Roman „Der Thronfolger“ in der FAZ vom 2. Mai 2014 hervorgehoben wird.

Von daher muss man wohl sehr zurückhaltend sein mit zu viel nachträglichen Hoffnungen, was Österreich-Ungarn als mögliche alternative Keimzelle eines nicht mehr nationalistischen Europas angeht. Aber es lohnt sich zumindest, darüber nachzudenken.