Oskar Loerke, „Hinter dem Horizont“

Auswertung des Titels

Oskar Loerke

Hinter dem Horizont

  • Der Titel verspricht dem Leser sich mit dem zu beschäftigen, was eben jenseits des Horizonts liegt, also jenseits dessen, was man aktuell mit seinen Augen noch erfassen kann.
  • Das löst sicherlich eine gewisse Spannung beziehungsweise Erwartungshaltung  aus.

Die 1. Strophe

Mein Schiff fährt langsam, sein Alter ist groß,
Algen, Muscheln, Moos,
Der Kot des Meeres hat sich angesetzt.
Eine bunte Insel, fast steht es zuletzt.

  • Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung der Situation, in der sich das lyrische Ich befindet. Offensichtlich ist es mit einem Schiff unterwegs, dass nicht nur alt ist, sondern auch in seiner Bewegung behindert wird durch das, was sich im Laufe der Zeit am Rumpf angesammelt hat.
  • Sehr negativ wird das als „Kot des Meeres“ benannt.
  • Etwas überraschend wird dann in der letzten Zeile eine „bunte Insel« erwähnt.
  • Im Vordergrund bleibt aber die Verlangsamung der Bewegung.
  • Wenn man die Lebensdaten des Verfassers hinzunimmt, kann man durchaus schon zwei Züge des Expressionismus erkennen, zum einen das Alter als Vorstufe des Todes oder hier der endgültigen Außerdienststellung des Schiffes. Zum anderen ist da die drastische Formulierung für das, was aktuell vor allen Dingen behindert und beschwert.
  • Deutungshypothese am Ende der 1. Strophe:
    Man fragt sich als Leser, ob dieses lyrische Ich sich nicht im Hinblick auf sein Leben in der gleichen Situation sieht wie sein Schiff.

Die 2. Strophe

Soll ich noch fahren ? Ich fahre nicht mehr.
Aber alle Dinge kommen,
Kontinente, frachtenschwer
Nun wie fremde Schiffe zu mir geschwommen

  • Die zweite Strophe beginnt mit der Infragestellung der eigenen Existenz als Schiffer.
  • Dann  verändert sich die Perspektive. Das lyrische Ich hat das Fahren zum Schiff eingestellt, sieht sich aber jetzt konfrontiert mit der umgekehrten Richtung. Es kommt nicht selbst mehr mit seinem Schiff irgendwohin, sondern „alle Dinge“ kommen nun entgegen – wie „fremde Schiffe“.
  • Interessant ist die Größenordnung. Das, was hier entgegenkommt, ist so groß wie „Kontinente“und vor allem „frachtenschwer“. Dieser Neologismus soll wohl die Größe und die Wucht deutlich machen, die der Gegenverkehr mit sich bringt.
  • Was expressionistische Elemente angeht, kommen hinzu zum einen die Infragestellung der eigenen Existenz und das Gefühl, einem anderen, Größeren ausgesetzt zu sein.

Die 3. Strophe

Vorbei ist der Menschen feste Küste
Wie der Donner im Winter,
Übriggeblieben im Gewölke
Der prophetische Vogelflug.

  • Diese Strophe verallgemeinert die individuelle Erfahrung des lyrischen Ichs und stellt fest, dass kein Mensch hier eine „feste Küste“ vorfindet.
  • Seltsam, dass das, was doch eigentlich positiv sein sollte, verglichen wird mit dem „Donner im Winter“, also eine doch einem eher negativen Phänomen der Natur.
  • Die letzten beiden Zeilen setzen dann schon einen überirdischen Akzent, wenn der Vogelflug zu etwas Prophetischem gemacht wird.
  • Wenn man das aus dem Geschichtsunterricht kennt, kann man hier an die Zukunftsdeutung bei den Römern denken, die den Flug der Vögel als Ausgangspunkt für Voraussagen nahmen.
  • Im Hinblick auf den Expressionismus kommt hier der Verlust der Festigkeit hinzu, außerdem ein Hinweis auf eine höhere Wirklichkeit, die nur prophetisch erkannt werden kann.

Die 4. Strophe

Steigender, stürzender Völker beharrendes Bild!
Soviel Blut und soviel Leid!
Und alles, was da gilt
Geschieht doch in der Einsamkeit.

  • Die letzte Strophe geht dann sogar soweit, vom Steigen und Stürzen ganzer Völker zu sprechen und „so viel Blut und so viel Leid“ zu sehen.
  • Damit ergibt sich ein nur negativer Blick auf die Geschichte der Menschen, alles Positive ist ausgeblendet.
  • Deutlich wird hier das expressionistische Element einer zumindest auf Epochen bezogenen Apokalypse.
  • Am Ende gibt es noch eine positive Bemerkung. Offensichtlich gibt es doch noch etwas, das „gilt“,  also Bestand hat.
  • Allerdings geschieht es in der Einsamkeit.
  • Es spricht einiges dafür, dass das lyrische Ich sein eigenes Sprechen in diesem Gedicht auch in diesem Zusammenhang sieht.

Textaussage

Das Gedicht zeigt …

  1. zunächst einmal das Phänomen des Alterns, der zunehmenden Unbrauchbarkeit,
  2. eine „bunte Insel“ wird anscheinend nicht mehr erreicht.
  3. Die eigene Nutzlosigkeit wird durch den massiven Gegenverkehr verdeutlicht, ein schöner künstlerischer Einfall.
  4. Die zweite Hälfte des Gedichtes verallgemeinert dann alles: So wie es dem lyrischen Ich geht, ergeht es allen Menschen – zumindest perspektivisch, sonst gäbe es ja keinen Gegenverkehr.
  5. Was die gesamte Geschichte der Menschheit angeht, so wird sie negativ gesehen.
  6. Etwas, was „gilt“, also Bestand hat, kann nur der Einzelne „in der Einsamkeit“ schaffen.
  7. Es spricht einiges dafür, dass das lyrische Ich sich auch selbst in der Situation sieht.

Vergleich mit Gottfried Benn, „Reisen“

Bei Loerke heißt es am Schluss:

„Und alles, was da gilt
Geschieht doch in der Einsamkeit.“

Bei Gottfried Benn heißt es am Ende des Gedichts „Reisen“
„ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.“

Bei Loerke geht es also um die eigene Existenz im Hinblick auf die Vergänglichkeit in der Zeit. Bei Benn geht es eher um eine Vergänglichkeit des Ortes, was seine Bedeutung für das Ich betrifft.

Weiterführende Hinweise