Ludwig Tieck, „Einsamkeit“

Das Verständnis des Gedichts „Einsamkeit“ von Ludwig Tieck von „unten aufbauen“

Bei dem folgenden Gedicht versuchen wir wieder einmal zu zeigen, wie weit man mit einer „induktiven“ Interpretation kommt. Bei der vergisst man erst mal möglichst alles, was man vom Autor und seiner Zeit kennt, und wendet sich einfach dem Text zu.

Wer noch genauer wissen will, wie wir diese sicherste Methode der Interpretation mit dem zweiten Sicherungsseil, nämlich der Hermeneutik, verbinden, der findet hier genauere Informationen:

https://www.endlich-durchblick.de/hilfen-im-fach-deutsch/fragen-%C3%BCber-fragen/induktiv-und-hermeneutisch-zwei-wege-zur-sicheren-interpretation/

Literatur ist nämlich erst mal nichts anderes als ein allerdings etwas seltsames, monologisches Gespräch zwischen dem Text und dem Leser.

Sobald man die Biografie des Autors und sein historisches Umfeld einbezieht, ist man eher im Bereich der Literaturgeschichte und behauptet möglicherweise mehr, als das Gedicht präsentiert.

Auch einen Vergleich mit anderen Gedichten sollte man nicht so durchführen, dass man die dort gewonnenen Erkenntnisse ohne Not auf das vorliegende Gedicht überträgt. Das sollte erst gemacht werden, wenn man das Gedicht selbst eine Frage offen lässt, die man zumindest hypothetisch mit anderen Gedichten des Autors und manchmal auch der Zeit beantworten kann.

Unser Ansatz: Strophe für Strophe dem lyrischen Ich folgen

Wir nehmen das Gedicht also ernst, achten auf seine Signale und versuchen sie, zu Aussagen zu bündeln.

Uns ist wichtig, dass man dem linear sich aufbauenden Prozess des Sprechens folgt und nicht vorschnell von einem höheren Standpunkt aus systematisch an den Text herangeht.

Auswertung des Titels

Ludwig Tieck Einsamkeit

Einsamkeit

  • Der Titel ist sehr allgemein gehalten und nennt nur ein Gefühl, das wohl jeder Mensch kennt und das bedeutet, dass man sich allein fühlt und das in einem häufig negativen Sinne, also als Leiden.
  • Allerdings gibt es auch die Einsamkeit als Beschreibung einer Landschaft mit einer entsprechenden Atmosphäre, die durchaus als wohltuend, erholsam empfunden werden kann.
  • Auf jeden Fall kann davon ausgegangen werden, dass der Titel so ziemlich jeden Menschen berührt und entsprechende Erwartungen hervorruft.

Auswertung der 1. Strophe

Der ist nicht einsam, der noch Schmerzen fühlet,
Verlassen von den Freunden und der Welt,
Wenn er die heiße Angst in Trauer kühlet,
Und des Verlustes Bild im Herzen hält,
Vergangenheit noch kindlich um ihn spielet
Und Zukunft ihren Spiegel vor ihn stellt:
Dem sind die Schmerzen Freunde wie die Tränen,
Und er genießt sich selbst im stillen Sehnen.

  • Das Gedicht beginnt mit einer Situation, die durchaus als Einsamkeit empfunden werden kann, was aber zugleich mit positiven Gegenkräften verbunden wird.
    • Der Einsamkeit ganz allgemein wird entgegengesetzt das Gefühl von Schmerzen. Das ist wohl so zu verstehen, dass noch etwas zumindest im Bewusstsein da ist, was schmerzlich vermisst wird.
    • Erwähnt wird der Verlust von Freunden und sogar der Welt, eine nicht näher beschriebene „heiße Angst“ und ein „Bild im Herzen“, das sich zwar auf einen Verlust bezieht, aber eben noch da ist.
    • All das wird zudem in einen zeitlichen Horizont gestellt, wobei man von „Vergangenheit“ „kindlich“ umspielt wird und die „Zukunft“ wie ein Spiegel wirkt. Das soll wohl bedeuten, dass das Verlorene dort auf irgendeine Art und Weise wiedergefunden werden kann.
    • Die Ausgangsstrophe endet damit, dass „Schmerzen“ und „Tränen“ wie „Freunde“ erscheinen, also in gewisser Weise einen Ersatz für die Freunde darstellen, die einen verlassen haben oder mussten.
    • Am Ende geht das lyrische Ich sogar so weit, von einem „stillen Sehnen“ zu sprechen, das als Genuss empfunden wird.
    • Insgesamt macht die erste Strophe deutlich, dass das lyrische Ich hier – aus welchen Gründen und vor dem Hintergrund welcher Erfahrungen auch immer – der Einsamkeit etwas Positives meint entnehmen zu können. Das setzt allerdings noch ein gewisses Maß an Empfindsamkeit voraus, was am Ende sogar zumindest teilweise als Genuss empfunden werden kann.

Auswertung der 2. Strophe

Strophe 2

Doch wenn das Herz entfremdet fühlt die Lieben,
Durch Misverständniss von ihm abgewandt,
Dann muss der Mensch sich inniglich betrüben,
Dann wandert er aus seinem Vaterland,
Und keine Stätt‘ ist ihm, kein Heil geblieben;
Er ist von Tempel, Weib und Kind verbannt,
Wohin er schaut, ist ihm die Welt getrennt,
Und feindlich dräut ihm selbst das Element.

  • Nachdem wir die erste Strophe ausführlich interpretiert haben, beschränken wir uns bei dieser und den folgenden Strophen darauf, kurze Hinweise zu geben. Die sollen helfen, eine genauere Untersuchung der Verszeilen auch selbst zu schaffen.
  • Entscheidend am Anfang der zweiten Strophe ist das Wort „Doch“, das deutlich macht, dass jetzt ein Gegenbild zur insgesamt immer noch recht positiven ersten Strophe entwickelt wird.
  • Wichtig sind zwei Fragen:
    • Frage 1: Welche andere Situation wird hier beschrieben im Vergleich zur ersten Strophe?
    • Frage 2: Welche Folgen hat diese andere Situation für den Betroffenen?

Auswertung der 3. Strophe

Strophe 3

Dann fühlt das Herz den Todesdruck der Schwere,
Und um sich ausgestorben die Natur;
Rings Einsamkeit, und dunkle wüste Leere
Zieht sich durch Tal und Wald und grüne Flur;
Die Freunde waren, stehn im Feindesheere,
Der wilde Hass verfolget seine Spur,
Die innre Liebe strebt empor zu flammen,
Doch drückt die schwarze Nacht das Licht zusammen.

  • In dieser Strophe geht es ja ganz offensichtlich noch einmal um die Folgen dieser anderen Situation.
  • Dementsprechend wäre zu klären, was diese Strophe denn noch zusätzlich an Problembeschreibung bringt.

Auswertung der 4. Strophe

Strophe 4

Dann bin ich fern im Tode fest verschlossen,
Ich höre keinen Ton, der zu mir dringt,
Und Freud‘ und Schmerz sind aus der Brust geflossen,
Die in sich selbst in tiefsten Aengsten ringt,
Auch kein Erinnern des, was sie genossen,
In ihrer tauben Leere wiederklingt,
Und höhnend ruft der innre böse Feind:
Genüge dir, so wie du sonst gemeint!

  • Hier setzt sich noch einmal die Ausdifferenzierung der Problemsituation fort.
  • Es ist typisch für frühere Zeiten, dass Dichter es offensichtlich für notwendig und auch im Hinblick auf die Leser als völlig problemlos empfunden haben, wenn sie bestimmte Dinge aus heutiger Sicht eher breitgetreten haben.
  • Hier könnte mal geprüft werden, ob man diese zum Teil redundant (unnötig mehrfach gesagt) wirkenden Strophen auch kürzer zusammenfassen könnte, ohne dass dabei Substanz verloren geht.

Auswertung der 5. Strophe

Strophe 5

Ich bin gefangen, seufzt die arme Seele,
Bedarf wohl deren, welche mich verstehn;
Doch wenn ich mich so stumm verlassen quäle,
So muss ich in mir selbst zu Grunde gehn.
Was frommt es, wenn ich dir den Wunsch verhehle?
Ich muss mein Licht in andern Augen sehn;
Mit jenen eins, bin ich von dir befreiet,
Mit mir allein, bin ich mir selbst entzweiet.

  • In dieser Strophe ändert sich die Richtung, die das lyrische ich einschlägt:
  • Jetzt geht es nicht mehr um eine immer wieder erneuerte und erweiterte Problembeschreibung,
  • Sondern das lyrische Ich fängt an zu überlegen, welche Auswege es aus der Situation geben könnte.
  • Die wären dann hier mal genauer zu beschreiben.

 

Auswertung der 6. Strophe

Strophe 6

Mit ihnen seh‘ ich die mir abwärts neigen,
Die von der toten Welt sich schon geschieden,
Und die ich seelig fühlte stets mein eigen;
Von Wald und Flur und Tal bin ich vermieden,
Die Blumen wollen sich nicht freundlich zeigen,
Die Sterne gönnen mir nicht mehr den Frieden,
Natur, die heil’ge, zieht sich weit zurücke,
Ich flehe wohl, sie sieht nicht meine Blicke.

  • Bei der Analyse dieser Strophe wäre zu prüfen, wie das lyrische Ich mit dem positiven Ansatz aus Strophe fünf umgeht.
  • Wird er grundsätzlich aufgegeben?
  • Oder wird er nur teilweise infragegestellt?

Auswertung der 7. Strophe

Strophe 7

Das Unsichtbare, das ich in mir hegte,
Die alte Zeit, die Liebe zu dem Hohen,
Der Glaub‘ an Kunst, den ich so innig pflegte,
Ist alles mit der Liebe weit entflohen;
Was herzlich sich mir an die Seele legte,
Wird sichtbarlich und will mir furchtbar drohen:
O Jammer! was ich ewig stets genannt,
Steht wild und zeitlich vor mir hingebannt!

  • In dieser Strophe wäre genauer zu untersuchen, was das lyrische ich mit dem „Unsichtbaren“ meint.
  • Und wodurch es dieses Unsichtbare bedroht sieht.

Auswertung der 8. Strophe

Strophe 8

Versteinert sieht es starr mir in die Blicke,
Was geistersüß die Seele quillend stillte,
In Steinen liegt umher mein kindlich Glücke,
Was sonst in schnellen Blitzen sich enthüllte;
Die liebsten Kinder können nicht zurücke,
Das Mutterherz verstummt, und an dem Bilde
Erstarrt es selbst und wird zu wildem Stein,
Die tiefe Trau’r sinkt in sich selbst hinein.

  • Auch in dieser Strophe scheint das lyrische Ich nicht so richtig vom Fleck zu kommen.
  • Von daher wäre zu prüfen, welches Grundgefühl aus der vorangegangenen Strophe hier fortgeführt wird
  • Und welcher zusätzliche Akzent gesetzt beziehungsweise Aspekt angesprochen wird.

Auswertung der 9. Strophe

Strophe 9

Wenn dann die Seele hat den Fels empfunden,
Druckt sie durch alle Sinnen wie sie zürne.
Im Herzen werden Schmerzen dann entbunden,
Die Augen saugen Fluten aus der Stirne,
Und in den Tränen bluten alle Wunden.
Voll Mitleid neigen wieder die Gestirne,
Im ew’gen Schmerz verstummet das Verheerende,
Es löscht der Strom das Feuer, das verzehrende,
Belebt die Ewigkeit sich, die verklärende.

  • Die letzte Strophe geht ja wohl ins Positive, was mit dem Begriff „Fels“ auf den Punkt gebracht wird.
  • Im Einzelnen wäre zu prüfen, inwieweit sich hier eben im Einzelnen eine positive Veränderung ergibt und wie sie motiviert ist, d.h.: Wie ist es dazugekommen?

Weiterführende Hinweise