Zu Rilkes Gedicht „Spätherbst in Venedig“
Man sollte für Gedichte so eine Art Härtegrade einrichten – zumindest, was den Umgang damit in der Schule angeht. Privat kann man ja eine Anthologie einfach mal durchblättern. Was einem gefällt, das schaut man sich genauer an. Und was einem seltsam bis fremd vorkommt, das überblättert man einfach.
Wenn dieses Gedicht nun in der Schule gelesen werden sollte (und lesen heißt in der Schule ja immer auch interpretieren), dann würden wir auf einer zehnstufigen Skala die höchste Punktzahl vergeben.
Das hindert uns aber nicht, uns trotzdem ranzuwagen 😉
Erwartungen, die sich mit dem Titel ergeben.
- Der Titel präsentiert zwei wichtige Informationen, zum einen die Angabe einer Jahreszeit, die für viele Menschen eine Vorstufe des Winters ist. Dementsprechend gibt es auch negative Erwartungen. Man spricht ja nicht von ungefähr vom Herbst des Lebens, wenn man das Alter meint.
- Das zweite Signal ist eine Ortsangabe, der Hinweis auf eine der berühmtesten und traditionsreichsten Städte in Italien, von Touristen überrannt und in der Gefahr, im Laufe der Zeit zu versinken.
- Zum einen könnte man jetzt vermuten, dass das Gedicht möglicherweise auch die düsteren Aspekte der Jahreszeit aufnimmt, es könnte aber auch sein, dass im Spätherbst weniger Touristen kommen und damit die Situation für die Einwohner sich erleichtert.
- Hier muss man natürlich vorsichtig sein, denn das Gedicht stammt ja aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – und da gab es zum Beispiel noch keine Kreuzfahrtschiffe, wie sie heute die Lagune befahren.
Strophe 1
Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
der alle aufgetauchten Tage fängt.
Die gläsernen Paläste klingen spröder
an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt
- Der Anfang der ersten Strophe verstärkt das Signal einer gewissen Befreiung, zumindest einer verminderten Anziehungskraft, die am Ende ja negative Folgen hat, wenn der Fisch den Köder geschluckt und bald in der Pfanne liegt.
- Die zweite Zeile allerdings stellt diese Interpretation infrage, weil durch den Köder keine Touristen angelockt worden sind, sondern „aufgetauchte Tage“. Damit wird der Sonnenaufgang in eine Verbindung mit der Wasserwelt der Stadt gebracht. Auf jeden Fall ist klar, dass die „Köder“-Funktion Venedigs im Spätherbst verschwunden ist.
- Die dritte Zeile ist ein bisschen irritierend, weil die Paläste mit „klingen“ verbunden werden, die den Blick des Betrachters erreichen. Allerdings erscheinen die Paläste als „gläsern“ und mit Glas kann man auch Musik machen, zumindest Töne produzieren.
- Allerdings bleibt es ein sehr eigentümliches künstlerisches Mittel. Man hat den Eindruck, dass es Rilke darauf ankommt, seine Wahrnehmungen und Gefühle auf ganz besondere Weise zu formulieren, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Zumindest denkt der Leser darüber nach, was der Anblickl der Paläste mit der Wahrnehmung von Musik zu tun haben kann.
Strophe 2
Aus der vorigen Strophe:
[Und aus den Gärten hängt]
der Sommer wie ein Haufen Marionetten
kopfüber, müde, umgebracht.
Aber vom Grund aus alten Waldskeletten
steigt Willen auf: als sollte über Nacht
- Zwischen der ersten und der zweiten Strophe gibt es einen „Sprung“, d.h. das Ende der ersten Strophe wird vom Satzbau her in der zweiten Strophe fortgeführt und auch zu einem Ende gebracht.
- Wenn es heißt:
„Und aus den Gärten hängt / der Sommer wie ein Haufen Marionetten / kopfüber, müde, umgebracht“
dann soll damit ausgedrückt werden, dass der Sommer sein Spiel gemacht hat und nun eben gewissermaßen abgelegt ist und man ihm auch nicht mehr die sonstige Aufmerksamkeit widmet. - Es folgt ein Gegensatz:
„Aber vom Grund aus alten Waldskeletten / steigt Willen auf…“,
der wohl aufnimmt, dass Venedig als Lagunenstadt auf Baumpfählen aufgebaut worden ist, was dem lyrischen Ich hier in den Sinn kommt und das ihn dazu bringt, diese Stadt mit ganz viel „Willen“ zu verbinden.
Der Rest der letzten Zeile ist dann in einem erneuten Strophensprung mit dem nächsten Abschnitt des Gedichtes verbunden.
Strophe 3
[als sollte über Nacht]
der General des Meeres die Galeeren
verdoppeln in dem wachen Arsenal,
um schon die nächste Morgenluft zu teeren
- Auch hier gibt es also wieder einen Strophensprung, der sogar noch weiträumiger ist.
- Der Wille zum Bau der Stadt auf Pfählen wird verbunden mit dem Bau von „Galeeren“, Kriegsschiffen, die sowohl mit Rudern wie auch mit Segeln angetrieben werden konnten.
- Hervorgehoben wird dann auch noch die Werft, in der sie gebaut wurden, wenn „vom wachen Arsenal“ die Rede ist. Hier wird also der „Wille“ auch noch mit einer „wachen“ Haltung verbunden, beides Voraussetzung für den Aufstieg Venedigs zur Seemacht.
- Die Strophe endet dann mit einer weiteren sehr originellen Formulierung, wenn nämlich die Abdichtung der Schiffsrümpfe verbunden wird mit dem Geruch, der sich dadurch verbreitet.
Strophe 4
mit einer Flotte, welche ruderschlagend
sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend,
den großen Wind hat, strahlend und fatal.
- Die letzte Strophe nimmt dann die Ausfahrt einer großen Flotte in den Blick, verbindet sie mit günstigen Signalen, endet aber mit dem Wort „fatal“, was schicksalhaft in einem negativen Sinne bedeutet.
- Angedeutet sein könnte damit das Schicksal der Seeleute auf den Galeeren, die im Falle einer Schiffsversenkung kaum eine Chance hatten sich zu retten.
Aussage und Bedeutung
- Das Gedicht präsentiert vor allem Wahrnehmungen, die man eben im Spätherbst in Venedig haben kann.
- Dazu kommen Assoziationen, die mit typischen Elementen der Stadt verbunden werden.
- Letztlich läuft es darauf hinaus, eine Besonderheit dieser Stadt hervorzuheben,
- nämlich zum einen den außergewöhnlichen Willen, der zu einer solchen Stadtbau im Meer nötig ist.
- Zum anderen wird auch die kriegerische Expansion der Macht dieser Stadt in den Blick genommen,
- allerdings am Ende mit dem Wort „fatal“ verbunden, also nicht positiv gesehen.
- Was außerdem auffällt ist die Neigung, auf eine recht extreme Art und Weise mit der Sprache und der Bedeutung der Wörter zu spielen. Am ehesten kann man sich das erklären, wenn auf diese Art und Weise versucht wird, die Sprache aus dem Bereich der Normalität herauszulösen, sie wieder mit ursprünglicher Ausdruckskraft auszustatten.
Mat1753 © Helmut Tornsdorf – www.schnell-durchblicken.de – Tipps und Tricks für das Überleben im Schulalltag
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