Ludwig Tieck, „Sehnsucht“ – ein Gedicht der Romantik zum Thema „Unterwegssein“ (Mat4295)

Zunächst kurz etwas zu Reim und Rhythmus

Ausnahmsweise beginnen wir hier mit der äußeren Form, auf den Inhalt gehen wir weiter unten ein.
Die folgende schnelle Bearbeitung macht deutlich, dass
  • Trochäen vorkommen, also ein Versmaß, das mit einer betonten  Silbe beginnt, auf die eine unbetonte folgt
  • dass das Reimschema sehr kompliziert ist.
  • In beiden Fällen muss man prüfen, ob die Zusammenhänge bei den Reimen bzw. die Abweichungen vom grundsätzlichen Trochäus-Muster auch eine inhaltliche Bedeutung haben.
  • Der Wechsel in der Zeile 12 kann zum Beispiel deutlich machen, dass es hier um überirdische Einflüsse geht.
  • Das wirkt dann sogar noch in den Beginn der zweiten Strophe hinein.
  • Was den Reim angeht, ist Zeile 6 zum Beispiel ohne Partner, das kann die Einsamkeit des menschlichen „Wähnens“ – fast schon nahe am „Wahn“ deutlich machen.
  • Dies nur als erste Ansätze für eigene weitere Untersuchungen.

Erläuterung der einzelnen Verszeilen

Warum Schmachten?
Warum Sehnen?

  • Das Gedicht beginnt mit kurzen Fragen, leicht variiert
  • Es geht um Situationen, in denen die Seele sich gewissermaßen ausreckt nach etwas hin, was noch nicht erreicht werden kann.
  • Interessant ist der erste, heute problematische Begriff: „schmachten“ – wird eher negativ gesehen, höchstens noch satirisch gebraucht

Alle Tränen
Ach! sie trachten
Weit nach Ferne,
Wo sie wähnen
Schönre Sterne.
Erweiterung Tränen

  • Es beginnt mit einer Art Stoßseufzer.
  • Nähere Erklärung der Begriffe schmachten, sehnen und trachten,
  • Verbindung der Entfernung mit der Vorstellung, der Fantasie von etwas Schönem, wird dargestellt im sprachlichen Bild der Sterne.
  • Interessanter Komparativ, der deutlich macht, dass es am aktuellen Ort und in der Gegenwart auch schon etwas Schönes gibt, das aber nicht reicht, die Realität hält der Fantasie nicht stand.
  • Letztlich unterstreicht das den bildlichen Charakter der Vorstellung

Leise Lüfte
Wehen linde,
Durch die Klüfte
Blumendüfte,
Gesang im Winde.
Geisterscherzen,
Leichte Herzen!

  • Hier wird die Zielvorstellung konkretisiert, man merkt auch hier deutlich, dass es nicht wirklich kosmische Elemente geht, sondern Sterne hier einfach nur für schöne Orte stehn.
  • Typisch romantische Vorstellung, die auch von Eichendorff sein könnte,
  • Verbindung von leise, sacht und leichtem Wehen,
  • dann aber doch ein Hinweis auf die sperrige Natur mit möglichen gefahren (Klüfte),
  • Hinzugefügt wird noch das Element des Dufts der Blumen.
  • Dann der nicht ganz klare Hinweis darauf, ob es in der Nähe nicht doch auch Menschen gibt, die singen, vielleicht ist es aber auch im übertragenen Sinn zu verstehen, dass einem also etwas wie „singen“ vorkommt.
  • „Geisterscherzen“ hängt auch mit romantischen Motiven zusammen.
  • Auch hier weiß man nicht genau, wie ernst das mit dem Scherzen gemeint ist. Es kann sich um etwas Lustiges handeln, aber auch um so etwas wie einen Aprilscherz, wie ihn die Griechen bei ihren Göttern kannten. Das würde dann ein weiterer Hinweis sein auf eine dunkle Seite der romantischen Welt, die möglicherweise zumindest unangenehm sein kann.
  • Die Strophe endet allerdings mit einem klaren positiven Hinweis auf eine befreiend, fröhlich stimmende Wirkung dieser Vorstellungen.

Ach! ach! wie sehnt sich für und für
O fremdes Land, mein Herz nach dir!

  • Wiederholung des Stoßseufzers
  • Hier wird noch einmal die Spannung ausgedrückt zwischen dem fremden Land und dem eigenen Herzen.
  • Wichtig ist die deutliche Konzentration der Aussagen auf das lyrische Ich selbst.

Werd‘ ich nie dir näher kommen,
Da mein Sinn so zu dir steht?

  • Bange Frage, ob diese Sehnsucht ohne Erfüllung bleibt

Kömmt kein Schifflein angeschwommen,
Das dann unter Segel geht?

  • Konkretisierung dieses Problems im Bild des Schiffes als Transportmittel

Unentdeckte ferne Lande, –
Ach mich halten ernste Bande,

  • Hier ein neuer Gegensatz, nämlich der zwischen der Sehnsuchtsvorstellung und dem Festgehalten-Werden.
  • Man weiß zunächst nicht, ob sich das auf das Ziel oder auf den aktuellen Punkt konzentriert beziehungsweise bezieht.

Nur wenn Träume um mich dämmern,
Seh‘ ich deine Ufer schimmern,
Seh‘ von dorther mir was winken, –
Ist es Freund, ist‘ s Menschgestalt?

  • Hier wird deutlich, dass es nur bestimmte Situationen gibt, in denen diese Sehnsucht entsteht.
  • Ergänzt wird das auch durch die Personalisierung, es geht nicht nur meine Landschaft oder Atmosphäre, sondern auch um einen Menschen, nach dem man sich sehnt, ohne ihn zu kennen.
  • Allerdings wird das mit den Menschen auch wieder infrage gestellt.

Schnell muss alles untersinken,
Rückwärts hält mich die Gewalt. –

  • Hier wird deutlich, dass diese Sehnsucht nicht endlos ist, man sich auch nicht aus hier befreien muss, sondern sie durch die Bande, die festhalten, beendet wird.


Warum Schmachten?
Warum Sehnen?
Alle Thränen
Ach! sie trachtet
Nach der Ferne,
Wo sie wähnen
Schönre Sterne. –

  • Erstaunlich, dass die erste Strophe hier unverändert zur Hälfte wiederholt wird.
  • Wahrscheinlich soll deutlich werden, dass ein Ausgangszustand wieder erreicht worden ist, es keinen Fortschritt gibt, das ganze läuft gewissermaßen kreislaufmäßig ab.
  • Allerdings ist die Wiederholung reduziert, weil sie nicht mehr konkretisiert wird, d.h. der zweite Teil der ersten Strophe fehlt.

Vergleich mit „Sehnsucht“ von Eichendorff

Hier nun zum Vergleich das Gedicht von Eichendorff mit dem gleichen Titel:

Sehnsucht

01 Es schienen so golden die Sterne,
02 Am Fenster ich einsam stand
03 Und hörte aus weiter Ferne
04 Ein Posthorn im stillen Land.
05 Das Herz mir im Leib entbrennte,
06 Da hab ich mir heimlich gedacht:
07 Ach, wer da mitreisen könnte
08 In der prächtigen Sommernacht!

09 Zwei junge Gesellen gingen
10 Vorüber am Bergeshang,
11 Ich hörte im Wandern sie singen
12 Die stille Gegend entlang:
13 Von schwindelnden Felsenschlüften,
14 Wo die Wälder rauschen so sacht,
15 Von Quellen, die von den Klüften
16 Sich stürzen in die Waldesnacht.

17 Sie sangen von Marmorbildern,
18 Von Gärten, die überm Gestein
19 In dämmernden Lauben verwildern,
20 Palästen im Mondenschein,
21 Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
22 Wann der Lauten Klang erwacht
23 Und die Brunnen verschlafen rauschen
24 In der prächtigen Sommernacht. –

Vergleich:
  1. Man merkt gleich, dass in Tiecks Gedicht mehr gelitten wird,
  2. es auch eine Macht gibt, die zurückhält.
  3. Bei Eichendorff dagegen scheint das Lyrische Ich bereit zu sein zum Aufbruch,
  4. bleibt aber real zurück, am Fenster, ohne das zu thematisieren.
  5. In beiden Fällen also eine Sehnsucht ohne reale Erfüllung in der Wirklichkeit.

Wer noch mehr möchte …