Kafka, „Die Verwandlung“ – Abschnitt 6: Flucht des Prokuristen

Inhalt des 6. Abschnittes: Flucht des Prokuristen

  1. Zu Beginn geht es hier um das Verhalten des Prokuristen während der langen Rede Gregors. Es ist ein Musterbeispiel für Körpersprache zwischen Fluchtwunsch und einem Fluchtverbot, über dessen Motive bzw. Hintergründe man nachdenken könnte. Ist es Moral – oder Höflichkeit?
    • „Aber der Prokurist hatte sich schon bei den ersten Worten Gregors abgewendet,
    • und nur über die zuckende Schulter hinweg sah er mit aufgeworfenen Lippen nach Gregor zurück.
    • Und während Gregors Rede stand er keinen Augenblick still, sondern verzog sich, ohne Gregor aus den Augen zu lassen, gegen die Tür,
    • aber ganz allmählich, als bestehe ein geheimes Verbot, das Zimmer zu verlassen.
    • Schon war er im Vorzimmer, und nach der plötzlichen Bewegung, mit der er zum letztenmal den Fuß aus dem Wohnzimmer zog, hätte man glauben können, er habe sich soeben die Sohle verbrannt.
    • Im Vorzimmer aber streckte er die rechte Hand weit von sich zur Treppe hin, als warte dort auf ihn eine geradezu überirdische Erlösung.“
  2. Der zweite Absatz präsentiert dann Gregors Reaktion auf diese Reaktion.
    • Gregor sah ein, dass er den Prokuristen in dieser Stimmung auf keinen Fall weggehen lassen dürfe, wenn dadurch seine Stellung im Geschäft nicht aufs äußerste gefährdet werden sollte.“
      Auch hier sieht man, wie sehr sich Gregor immer noch an eine Normalität klammert, die real längst nicht mehr existiert.
    • „Die Eltern verstanden das alles nicht so gut; sie hatten sich in den langen Jahren die Überzeugung gebildet, dass Gregor in diesem Geschäft für sein Leben versorgt war,“
      Hier wird noch einmal deutlich, was in dieser Familie schiefgelaufen ist,  die alle Verantwortung auf Gregor abgeladen hat – oder die er sich – aus welchen Gründen auch immer – hat gerne aufladen lassen.
    • „und hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun, dass ihnen jede Voraussicht abhanden gekommen war.
    • Aber Gregor hatte diese Voraussicht.“
      Das ist natürlich eine sehr seltsame, gewissermaßen auf einer falschen Annahme beruhende „Voraussicht“.
    • „Der Prokurist musste gehalten, beruhigt, überzeugt und schließlich gewonnen werden;
    • die Zukunft Gregors und seiner Familie hing doch davon ab!
    • Wäre doch die Schwester hier gewesen! Sie war klug; sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rücken lag.“
      Das sollte man im Auge behalten, wenn es am Ende um die Frage geht, wer sich in dieser Erzählung eigentlich verwandelt.
    • Und gewiss hätte der Prokurist, dieser Damenfreund, sich von ihr lenken lassen;
    • sie hätte die Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken ausgeredet.
    • Aber die Schwester war eben nicht da, Gregor selbst musste handeln.“
    • Insgesamt ein sehr schönes Beispiel für das Verhältnis von Erzählzeit – ziemlich lange – und erzählter Zeit, die sehr kurz ist, denn diese Überlegungen müssen Gregor ja in Sekundenschnelle durch den Kopf gegangen sein. Sonst wäre der Prokurist nämlich längst weg gewesen.
  3. Gregor wird dann richtig aktiv und versucht, dem Prokuristen nachzueilen. Dabei fällt er …
    • „Und ohne daran zu denken, daß er seine gegenwärtigen Fähigkeiten, sich zu bewegen, noch gar nicht kannte, ohne auch daran zu denken, daß seine Rede möglicher- ja wahrscheinlicherweise wieder nicht verstanden worden war, verließ er den Türflügel; schob sich durch die Öffnung; wollte zum Prokuristen hingehen, der sich schon am Geländer des Vorplatzes lächerlicherweise mit beiden Händen festhielt; fiel aber sofort, nach einem Halt suchend, mit einem kleinen Schrei auf seine vielen Beinchen nieder.“
      Ein schönes Beispiel dafür, wie hier der Erzähler auktorial etwas erzählt, woran Gregor gerade nicht denkt.
    • „Kaum war das geschehen, fühlte er zum erstenmal an diesem Morgen ein körperliches Wohlbehagen; die Beinchen hatten festen Boden unter sich; sie gehorchten vollkommen, wie er zu seiner Freude merkte; strebten sogar darnach, ihn fortzutragen, wohin er wollte; und schon glaubte er, die endgültige Besserung alles Leidens stehe unmittelbar bevor.“
      Entscheidend ist hier, dass er mit seiner neuen Existenz anscheinend inzwischen besser klar kommt und daraus – unverständlicherweise – Hoffnung schöpft. Er blendet immer noch aus, dass er sich zur Zeit in einem für seine Existenz in Familie und Beruf falschem Körper befindet.
  4. Diese Illusion wird dann aber durch die erschrockene Reaktion seiner Mutter gestört, die in ihrer „Zerstreutheit“ sich auf den Tisch setzt und dabei eine Kanne umstürzt und der Kaffee ausläuft. Das Ergebnis macht überdeutlich, dass hier überhaupt nichts wieder in Ordnung kommt.
  5. Es kommt dann zu weiteren Verwirrungen, die zur endgültigen Flucht des Prokuristen führen und schließlich den Vater dazu bringen, Gregor mit Hilfe eines Stockes und einer Zeitung in sein Zimmer zurückzutreiben.

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