Im Video wird auf die Beziehung zwischen dem Grafen und der Marquise genauer eingegangen.
Zu finden ist das Video auf Youtube unter:
Die Dokumentation kann hier heruntergeladen werden:
Mat803 VidBeglBlatt Marquise Engel Teufel
Mat803 VidBeglBlatt Marquise Engel Teufel
Worum geht es?
- “Die Marquise von O….” ist eine Novelle, behandelt also eine “unerhörte Begebenheit”
- Verhinderte Vergewaltigung – und dann doch eine durch den Retter?
- Doch der versucht, alles wieder gut zu machen, stößt aber zunächst auf Ablehnung.
- Als die Marquise dann am Ende dem Grafen doch verzeiht, spricht sie davon, dass er ihr erst als Engel, dann als Teufel erschienen sei – das habe sie erst mal verkraften müssen.
- Aber es gibt auch Indizien dafür, dass die Marquise doch nicht so unbeteiligt war am “unerhörten” Geschehen. Auch Kleist selbst äußert sich dazu ziemlich eindeutig.
- War nur der Graf kurzzeitig ein “Teufel”? Oder war die Marquise mehr als nur körperlich dabei?
Stufe 1 der Klärung: Ausgangssituation
- “eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern”
- “wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen”
- “ein russischer Offizier (…) Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein.”
- “wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, dass sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.”
Stufe 2: Problem der Schwangerschaft
- Nach der Diagnose des Doktors: “Sie durchlief, gegen sich selbst mißtrauisch, alle Momente des verflossenen Jahres, und hielt sich für verrückt, wenn sie an den letzten dachte.”
- Zur Mutter: “Eher, antwortete die Marquise, daß die Gräber befruchtet werden, und sich dem Schoße der Leichen eine Geburt entwickeln wird!”
- Zur Hebamme: “Nein, nein, antwortete die Marquise, sie habe wissentlich empfangen, sie wolle nur im allgemeinen wissen, ob diese Erscheinung im Reiche der Natur sei?”
- Beim Besuch des Grafen in V: “der Graf; doch von Ihrer Unschuld völlig überzeugt”: Marquise: “Ich will nichts wissen, versetzte die Marquise, stieß ihn heftig vor die Brust zurück, eilte auf die Rampe, und verschwand”
- Bernd Ogan, Reclam-Lektüreschlüssel 2018: “. 1808 macht Kleist sich geradezu in einem Heft der Zeitschrift ‘Phöbus’ lustig über die Vorstellung der Schwängerung einer Ohnmächtigen: ‘In Ohnmacht1 Schamlose Posse! Sie hielt, weiß ich, die Augen bloß zu.’
- Inka Mülder-Bach: “Geschichte eines nicht-gewußten weiblichen Wunsches nach der Flutung oder Überflutung durch den göttlichen Vater.
Grosses vollständiges Universal-Lexikon, herausgegeben 1740 von Johann Heinrich Zedler: Es gibt Stufen, bei denen der Betroffene zwar nicht mehr reagieren kann, wohl aber noch bei Bewusstsein ist.
“Entsprechend verliert die oder der Betroffene im Fall des ersten Typs nicht vollständig das Bewusstsein”
Cécile Ellwanger, Dissertation 2011
“Entsprechend verliert die oder der Betroffene im Fall des ersten Typs nicht vollständig das Bewusstsein”
Cécile Ellwanger, Dissertation 2011
Stufe 3:
Warum lehnt die Marquise das Heiratsangebot des Grafen zunächst ab?
1. Eigentlich positiv: Klärung ihrer Unschuld und das Kind bekommt einen Vater
2. Stattdessen bezeichnet sie den Grafen als “Teufel”: “gehn Sie! gehn Sie! gehn Sie! rief sie, indem sie aufstand; auf einen Lasterhaften war ich gefasst, aber auf keinen – Teufel!”
3. Bernd Ogan erklärt ihr Verhalten im Reclam Lektüreschlüssel mit “Projektion”: Versuch der Zuschreibung eines Problems an eine fremde Person – in dunkelsten Farben, dient der eigenen Entlastung.
Stufe 4: Happy End mit Anstrengung
1. Zunächst gibt es nur eine “halbe” Hochzeit – ohne Rechte für den Grafen
2. Er verdankt es nur seinem “zarten, würdigen und völlig musterhaften Betragen”, dass er bei der Taufe dabei sein darf.
3. Schenkung und Testament zeigen sein Engagement – er bleibt ein “halber” Vater
4. Marquise musste sich besinnen; verzeiht ihm “um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen” – Frage, ob das nicht auch für sie gilt.
5. Beantwortet die Frage des Grafen: Er wurde für sie zum Teufel, weil er anfangs als Engel erschienen war.
6. Bernd Ogan: “doppelter Erkenntnisprozess”
mit sich selbste, mit der Welt; auch sie ein Mensch zwischen Engel und Teufel: Ende der Verdrängung; Anerkennung ihrer Weiblichkeit
Warum lehnt die Marquise das Heiratsangebot des Grafen zunächst ab?
1. Eigentlich positiv: Klärung ihrer Unschuld und das Kind bekommt einen Vater
2. Stattdessen bezeichnet sie den Grafen als “Teufel”: “gehn Sie! gehn Sie! gehn Sie! rief sie, indem sie aufstand; auf einen Lasterhaften war ich gefasst, aber auf keinen – Teufel!”
3. Bernd Ogan erklärt ihr Verhalten im Reclam Lektüreschlüssel mit “Projektion”: Versuch der Zuschreibung eines Problems an eine fremde Person – in dunkelsten Farben, dient der eigenen Entlastung.
Stufe 4: Happy End mit Anstrengung
1. Zunächst gibt es nur eine “halbe” Hochzeit – ohne Rechte für den Grafen
2. Er verdankt es nur seinem “zarten, würdigen und völlig musterhaften Betragen”, dass er bei der Taufe dabei sein darf.
3. Schenkung und Testament zeigen sein Engagement – er bleibt ein “halber” Vater
4. Marquise musste sich besinnen; verzeiht ihm “um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen” – Frage, ob das nicht auch für sie gilt.
5. Beantwortet die Frage des Grafen: Er wurde für sie zum Teufel, weil er anfangs als Engel erschienen war.
6. Bernd Ogan: “doppelter Erkenntnisprozess”
mit sich selbste, mit der Welt; auch sie ein Mensch zwischen Engel und Teufel: Ende der Verdrängung; Anerkennung ihrer Weiblichkeit
Stufe 4: Happy End mit Anstrengung
- Zunächst gibt es nur eine “halbe” Hochzeit – ohne Rechte für den Grafen
- Er verdankt es nur seinem “zarten, würdigen und völlig musterhaften Betragen”, dass er bei der Taufe dabei sein darf.
- Schenkung und Testament zeigen sein Engagement – er bleibt ein “halber” Vater
- Marquise musste sich besinnen; verzeiht ihm “um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen” – Frage, ob das nicht auch für sie gilt.
- Beantwortet die Frage des Grafen: Er wurde für sie zum Teufel, weil er anfangs als Engel erschienen war.
- Bernd Ogan: “doppelter Erkenntnisprozess”mit sich selbste, mit der Welt; auch sie ein Mensch zwischen Engel und Teufel: Ende der Verdrängung; Anerkennung ihrer Weiblichkeit
Nachtrag: Der Trick der Mutter
- Jemand hat in einem Kommentar zum Video die Frage gestellt, ob nicht die Tatsache, dass die Marquise den Test der Mutter besteht, für ihre Unschuld steht. Schauen wir uns das mal an.
- Auf Seite 36 der E-Book-Reclam-Ausgabe geht es los:
Die Mutter behauptet, der Vater habe sich bei ihr schon auf die Anzeige hin gemeldet. - Die Marquise soll jetzt erraten, wer es war.
- Angedeutet wird, dass er von „niedrigem Stande“ sei.
- Dann sagt sie es doch, wer es angeblich gewesen sei, nämlich Leopardo der Jäger.
- Die Marquise reagiert „mit dem Ausdruck der Verzweiflung“. Sie ist verwirrt und fragt nach dem Wann, Wo und Wie.
- Das will der Jäger der Marquise nur selbst anvertrauen.
- Der Marquise fällt dann ein, dass sie mal in der Mittagshitze eingeschlummert sei und den Jäger von sich gehen sa, als sie aufwachte.
- Kommentar: Das ist natürlich äußerst unwahrscheinlich, dass ein Bediensteter am hellichten Tag über eine Marquise herfällt – in keiner Weise mit der besonderen Kriegssituation zu vergleichen. Auch eine Ohnmacht ist was anderes als ein leichter Schlaf.
- Als die Marquise sich dann ganz ihrer Scham hingibt, erlöst die Mutter sie und wertet das so für sich aus, dass die Marquise wirklich nicht weiß, wer der Vater ist.
- Fazit: Es bleibt am wahrscheinlichsten, dass die Marquise entweder wirklich nichts während ihrer Ohnmacht mitbekommen hat – oder sie verdrängt es eben.
- Und vor dem Hintergrund ist ihr Verhalten hier durchaus nachvollziehbar – ohne damit ein Geschehenlassen in Hilflosigkeit, vielleicht auch Dankbarkeit gegenüber dem Retter völlig auszuschließen.
- Nach wie vor spielt die Stelle auf S. 21 eine Rolle, wo die Marquise alle Möglichkeiten durchgeht und sich „für verrückt“ hält, „wenn sie an den letzten“ denkt.
- Dazu kommt die wilde Szene, als der Graf die Marquise in V. besucht. Da wehrt sie sich nicht nur gegen seine Übergriffe, sondern sagt auch ganz deutlich: „Ich will nichts wissen.“
- Halten wir also fest, dass die Mutter-Test-Lösung für die Marquise kein Ausweg aus möglicher Mitverantwortung bedeutet, dass sie die Möglichkeit aber als Chance sieht, ihre Unschuld gegenüber den Eltern zu beweisen, was ganz in ihrem Interesse sein muss.
- Andererseits ist da ihre „Verzweiflung“, als der Name des Jägers genannt wird. Heißt das, dass sie unter der Peinlichkeit dieser unstandesgemäßen Situation leidet? Sie kann ja nicht wissen, ob der Graf auf die Anzeige reagieren wird – und dann hätte sie sicher ein Problem.
- Letztlich bleibt alles in einer literarischen Zwischenzone, die Kleist bewusst geschaffen oder zugelassen hat.
Was man sich merken sollte
- “Unerhörte Begebenheit”: Retter wird zum Vergewaltiger
- Oder nur zum Teil? Dafür spricht, dass Ohnmacht nicht Bewusstlosigkeit bedeuten muss
- Hierfür spricht auch eine Bemerkung des Autors
- Seltsam auch, dass sie keine Spuren der Vergewaltigung an sich entdeckt hat
- Möglichkeit; dass es eine halbe Hingabe an den rettenden Engel sein kann, der Durchbruch natürlicher Weiblichkeit in einer besonderen Situation
- dass sie viele Zeichen des Verdrängens zeigt, nicht zu viel wissen will
- Die radikale Zurückweisung des Grafen als “Teufel” kann “Projektion” sein – Abschiebung von Verantwortung
- Hinweis auf die “gebrechliche Einrichtung der Welt”
- Happy End – nach Klärung bleibt nichts zurück
- Insgesamt Präsentation von Figuren, die mehr oder wenig schuldig werden, daraus aber Kraft und Autonomie entwickeln, bsd. die Marquise, auch ihre Mutter, z.T. der Graf.
Informationsquellen
- Bernd Ogan, Heinrich von Kleist, Die Marquise von O…., Lektüreschlüssel, Reclam: Ditzingen 2006/2013/2018
Genauere Vorstellung des Lektüreschlüssels:
https://www.schnell-durchblicken2.de/marquise-materialien - Cécile Ellwanger, „Zwischen Stabilität und Konflikt:
„Ohnmächtige Frauen in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts“, ‚Dissertation Ellwangen 2011 - INKA MÜLDER-BACH, „Die »Feuerprobe der Wahrheit«. Fall-Studien zur weiblichen Ohnmacht“