Eichendorff, Morgengebet – Beispiel für Religiosität in der Romantik

Der Ansatz unserer Interpretation

Wie immer gehen wir induktiv vor, d.h. wir arbeiten das heraus, was das lyrische Ich präsentiert, und fassen es dann zu Aussagen des Gedichtes zusammen.

Überschrift und Strophe 1

Joseph von Eichendorff

Morgengebet

01 O wunderbares, tiefes Schweigen,
02 Wie einsam ist’s noch auf der Welt!
03 Die Wälder nur sich leise neigen,
04 Als ging‘ der Herr durchs stille Feld.

  • Das Gedicht beginnt mit einer Art Ausruf, der ein „tiefes Schweigen“ in der Umgebung bewundert, das anschließend mit „einsam“ im Hinblick auf die Welt verbunden wird.
  • Wenn man den Titel mit einbezieht, versteht das Lyrische Ich das, was es sagt, offensichtlich als Gebet.
  • Das Wort „noch“ passt ebenfalls zum Titel, weil es dort um den Morgen, den Beginn des Tages geht.
  • Anschließend kommt neben der Einsamkeit mit den Wäldern ein weiteres zentrales romantisches Motiv ins Spiel, das über das Wort „leise“ mit dem eben Genannten verbunden wird bzw. es ergänzt.
  • Die letzte Zeile ist dann interessant, weil man sie nur versteht, wenn man weiß, dass der „Herr“ im jüdisch-christlichen Glauben für Gott steht.
  • Offensichtlich liegt hier eine Vorstellung von ihm zugrunde, die weniger mit machtvollem als vielmehr mit einem zurückhaltenden, leisen Auftreten verbunden ist.
  • Wenn man sich hier zufällig auskennt, dann findet man sicher auch eine Bibelstelle, die diese Art und Weise göttlichen Erscheinens betont. Und zwar macht diese Erfahrung der Prophet Elia, der sich an Gott wendet und dieser erscheint ihm – so stellt es die Bibel dar – wie folgt::
    (1. Könige 19, 11-13): „Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. 12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. 13 Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle. Und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach …“
    https://www.bibleserver.com/LUT/1.K%C3%B6nige19

Strophe 2

05 Ich fühl mich recht wie neu geschaffen
06 Wo ist die Sorge nun und Not?
07 Was mich noch gestern wollt erschlaffen,
08 Ich schäm mich des im Morgenrot.

  • Der Beginn der zweiten Strophe zeigt dann die Wirkung, die dieser Morgen und vielleicht auch das Gebet auf das lyrische Ich hat, es fühlt sich „wie neu geschaffen“. Wenn man von der Vorstellung von Gott als dem Schöpfer des Menschen ausgeht, heißt das soviel wie: Ich bin ein neuer Mensch, eine sehr weitgehende Vorstellung.
  • Es folgt ein Rückblick auf das, was an diesem Morgen aus dem Blick geraten ist, nämlich „Sorge“ und „Not“.
  • Die Zeilen 07 und 08 gehen dann sogar soweit, dass das lyrische Ich sich rückblickend seiner negativen Gefühle vom Vortag schämt.

Strophe 3

09 Die Welt mit ihrem Gram und Glücke
10 Will ich, ein Pilger, frohbereit
11 Betreten nur wie eine Brücke
12 Zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.

  • Die dritte Strophe weitet dann den Blick aus auf die ganze Welt, die für das lyrische Ich von zwei extrem gegensätzlichen Situationen gekennzeichnet ist: „Gram und Glücke“, also schlimmste Negativgefühle und dann auch das Gegenteil.
  • Die Zeilen 10 bis 12 wenden sich dann dem zu, was vor dem lyrischen Ich liegt, nämlich der neue Tag mit seinen Herausforderungen und extrem unterschiedlichen Erfahrungen: All das wird nur als eine „Brücke“ verstanden zu einem Ziel, das jenseits von all dem liegt und das lyrische Ich zu einem „Pilger“ macht, der „frohbereit“ – ein schöner Neologismus – alles annehmen kann, was kommen mag.
  • Was zwischen dem Jetzt-Zustand und dem Ziel liegt, wird als „Strom der Zeit“ verstanden, was sicher als Gegensatz zur dann kommenden Ewigkeit gesehen wird.

Strophe 4

13 Und buhlt mein Lied, auf Weltgunst lauernd,
14 Um schnöden Sold der Eitelkeit:
15 Zerschlag mein Saitenspiel, und schauernd
16 Schweig ich vor dir in Ewigkeit.

  • Die letzte Strophe geht dann genauer auf das lyrische Ich ein, es stellt sich indirekt vor, indem es von seinem „Lied“ spricht. Man kann wohl davon ausgehen, dass Eichendorff hier wohl so etwas wie dieses Gedicht meint.
  • Das Lied als besonderes künstlerisches Phänomen wird in der Gefahr gesehen, „auf Weltgunst“ zu lauern, also irdisches Lob haben zu wollen.
    Das Wort „buhlen“ wird auf der folgenden Seite:
    https://www.wortbedeutung.info/buhlen/
    so erklärt: „sich um etwas liebedienerisch, unterwürfig bewerben“. Das bedeutet, dass man so etwas wie Liebe nur einsetzt, um einen Dienst zu erweisen, für den man irgendwie belohnt wird.
  • Die Zeile 14 geht dann darauf genauer ein, wenn sie von einem „schnöden Sold der Eitelkeit“ spricht. Damit ist gemeint, dass man etwas Wertloses, Unechtes als Bezahlung bekommt und zwar etwas, was nur der eigenen Eitelheit, Wohlgefallen an sich selbst dient. Man spricht im Deutschen auch von „Gefallsucht“, also einem schon krankhaften Bemühen , anderen und dann auch sich zu gefallen.
  • Die letzten beiden Zeilen präsentieren dann eine Art Lösung, wenn dieser Negativfall der Selbstgefälligkeit und Ehrsucht eintreten sollte:
    Dann soll der in diesem Gebet-Gedicht angeredete Herr, also Gott, das „Saitenspiel“, also die Kunst des Dichters zerschlagen.
    Das wird ihn dann dazu bringen, dass er in eine Art heiligen Schauer fällt und ab dann schweigen wird in alle Ewigkeit.

Aussagen des Gedichtes (Intentionalität)

Das Gedicht zeigt:

  1. Die Freude über das Schweigen und die Einsamkeit an einem Morgen,
  2. Was an Gott erinnert, dem eine ähnliche Situation, wenn er erscheint, zugesprochen wird.
  3. Die Veränderung, die ein solcher Morgen für den Menschen mit sich bringt, er fühlt sich neu geschaffen, sieht das nicht mehr, was ihn am Vortag noch beunruhigt hat, ja schämt sich dessen sogar.
  4. Das Lyrische Ich, wohl auch der Dichter, sieht sich als Pilger, der voll Freude in den Tag hineingehen kann, weil er das als „Brücke“ sieht, die ihn zu Gott bringt.
  5. Gesehen wird aber auch die Gefahr, dass das, was das lyrische Ich an Liedern oder Gedichten schafft, eher der eigenen Ruhmsucht dient.
  6. Davor will es bewahrt werden und ist auch bereit, in einem solchen Fall sein Dichtertum ganz und endgültig aufzugeben.

Bedeutung des Gedichtes

Insgesamt ein Gedicht, das die Frömmigkeit mancher Romantiker und besonders Eichendorffs zeigt. Die Natur ist eine Kraftquelle, die an Gott erinnert, dem gegenüber man sich als Pilger auf dem Weg zu ihm fühlt. Diese Pilgerschaft ist für den Künstler mit einer besonderen Verantwortung verbunden, nicht für sich zu dichten, sondern wohl wie in diesem Gedicht Gott und seine Schöpfung zu bewundern und zur Basis eines Gebetes zu machen.

Wer noch mehr möchte …