Abiturrede: Werdet nicht nur Fachleute, seid auch Autodidakten (Mat346)

Worum es hier geht:

In dieser Rede wird auf die Grenzen des „Fachleute“-Wesens hingewiesen.

So nötig sie sind, so gefährdet sind sie aber auch gerade durch das vorhandene oder auch scheinbare Know-how.

Auf inspirierende Weise wird demgegenüber auf den Vorteil des Autodidakten hingewiesen, der sich alles selbst erarbeiten musste, dafür aber auch geprüft und dann erst zu seinem „Eigenen“ gemacht hat.

Text

Warum wir nicht nur „Fachleute“ sein sollten …

Abiturrede im Rahmen der Abschiedsfeier des Klarfurter Gymnasiums am 22.06.2016

Stefan Marjoski (Jahrgangsstufenleiter des Abiturjahrgangs)

 

Liebe Schülerinnen, liebe Schüler, mit euch darf die Begrüßung heute vielleicht mal ganz selbstverständlich beginnen, immerhin steht ihr heute im Mittelpunkt unserer Veranstaltung. Aber natürlich beziehen wir auch alle anderen mit ein, also die sich heute mit euch freuen und mehr oder weniger auch ihren Anteil dazu beigetragen haben, dass wir es soweit geschafft haben.

Was mich als euren Jahrgangsstufenleiter angeht, so habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht für euch. Beginnen wir mit der guten: Ihr seid jetzt ausgewiesene Fachleute der allgemeinen Hochschulreife. Ihr habt eine Menge Wissen in euch hinein gestopft, vor allem kennt ihr auch viele Methoden, mit denen man dieses Wissen anwenden, aber auch erweitern kann.

Konzentrieren wir uns heute etwas auf die schlechte Nachricht, die natürlich an einem solchen Tag am Ende keine schlechte bleiben wird. Aber es ist schon irritierend: Wenn man sich viele berühmte Menschen der Geschichte ansieht, dann haben sie Erstaunliches geleistet, ohne dass sie das in der Schule gelernt hätten. Ein früher sehr bekannter Schriftsteller namens Karl May hat sich im Gefängnis das Schreiben von überaus erfolgreichen Abenteuerbüchern beigebracht. Oder ein anderes Beispiel: Kaum jemand weiß, dass Albert Einstein seine Relativitätstheorie keineswegs in einem Arbeitsraum der Universität entwickelt hat, sondern neben seiner Tätigkeit in einem Schweizer Patentamt. Ich stelle mir das gerade so vor: Während er über der Beschreibung einer neuen Apfelpflückmaschine brütet, denkt er über das Verhältnis von Raum und Zeit nach. Aber nähern wir uns der Generation eurer Eltern und inzwischen schon Großeltern: Wer 1980 als Lehrer in die Schule kam wie ich, der war froh, dass es bereits Taschenrechner gab. Die Examensarbeiten hatte ich noch auf einer Schreibmaschine geschrieben. Und als dann die ersten Computer auf den Markt kamen, da musste man sich alles selbst beibringen. So schöne Computerhandbücher wie heute gab es natürlich noch nicht.

Bevor ich mich jetzt weiter in Erinnerungen verliere, will ich lieber sagen, worauf ich eigentlich hinaus will und was das alles mit euch zu tun hat. Letztens fand ich zufällig auf YouTube ein Gespräch mit dem Schweizer Journalisten Frank A Meyer, der es in der europäischen Presselandschaft ziemlich weit gebracht hat – ohne Abitur, ohne Studium. An der Stelle wurde es für mich faszinierend. Er war also ein “Autodidakt”, also jemand, der sich Wichtiges selbst beibringen muss – ohne Lehrer. Bisher hatte ich immer gedacht, dass das nur ein Nachteil ist. Meyer aber machte auf einen besonderen Vorteil dieser “Selbst-Bildung” (so will ich das mal nennen) aufmerksam. muss. Weil er sich alles selbst beibringen musste, hatte er auch nie Lehrer, die schon alles wussten und denen er nur zu folgen brauchte. Seine Lehrer waren die Dinge selbst, die Phänomene und auch Probleme dieser Welt, die sich immer nur in Frageform präsentieren und den Menschen zu Antworten herausforderten. Als Autodidakt wurde er immer mit mehreren Antworten konfrontiert und musste selbst herausfinden, wie sehr sie stimmten. Es gab für ihn keine Autoritäten, die nur deshalb Recht bekamen, weil sie eben als Fachleute galten. Ein Autodidakt ist also so etwas wie das Kind im Märchen “Des Kaisers neue Kleider”. Während alle meinen, diese Kleider zu sehen, weil es ihnen “vorgesagt” wird und sie nicht negativ auffallen wollen, ist es ein Kind, das plötzlich die Wahrheit hinausschreit: “Mama guck mal, der ist ja nackt” – und dann sehen es auch die anderen.

Und leider ist es nicht nur im Märchen so – auch im wirklichen Leben setzen sich neue Erkenntnisse in der Fachwelt nur sehr mühsam durch.

Was hat das alles mit euch zu tun? Ihr habt viel erreicht in den letzten Jahren, ihr habt ein breites Fundament an Wissen und Kompetenzen, auf dem wir aufbauen könnt. Vieles habt ihr euch aber auch selbst beibringen müssen, vom optimalen Umgang mit dem Smartphone und seinen Apps bis hin zu der Frage, wie man möglichst lange und glücklich mit einem Freund oder einer Freundin zusammen bleibt.

Geht also möglichst auch in Zukunft eigene Wege, nutzt alles, was euch an weiterer Ausbildung im Studium und im Beruf geboten wird. Denkt aber immer daran, dass das nur der Stand von gestern sein kann. Denkt an die Definition des großen Philosophen Immanuel Kant, nach der Aufklärung die Fähigkeit ist, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Schöner kann man nicht formulieren, was ein Autodidakt macht. Seid also beides, seid Fachleute, die diese Welt dringend braucht, um sie einigermaßen auf einer guten Bahn zu halten, bleibt aber zweifelnd und neugierig auf Alternativen und Wege, die noch niemand vor euch beschritten hat. Und wenn es dann mal einsam um euch wird, ihr auch auf Widerstände stoßt, geht auch mal Umwege, sucht euch Verbündete, behaltet aber immer das Ziel im Auge: das Bewährte weiterzuentwickeln und es um Neues anzureichern.

In diesem Sinne wünsche ich euch viel Erfolg auf euren Wegen – und wenn eure neuen Erkenntnisse mal bei den sogenannten Fachleuten nicht gleich ankommen, dann denkt an Albert Einstein, dem der wunderbare Satz zugeschrieben wird: “Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.”

Und er als Autodidakt im Schweizer Patentamt musste er es ja wissen.

 

Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den vorliegenden Text, indem Sie
    1. die Art des Textes, seinen Kontext und die Vorab-Erwartungen der Adressaten klären,
    2. den Gedankengang des Textes erläutern,
    3. seine Absicht bzw. Intention herausarbeiten
    4. und zeigen, mit welchen sprachlichen Mitteln sie unterstützt wird.
  2. Nehmen Sie Stellung zum Text und zu seinem Thema. Berücksichtigen Sie dabei besonders die Widerstände, die sich neuen Erkenntnissen entgegenstellen, und die Möglichkeiten, diese zu überwinden.

Das Einstein-Zitat findet man übrigens auf: http://zitate.net/albert-einstein-zitate

Druckvorlage

Mat346 Abiturrede Werdet nicht nur Fachleute bleibt Autodidakten