Lichtenstein, „Die Stadt“ – das Gedicht zum Einstieg in den Expressionismus (Mat4707)

Das Gedicht von Lichtenstein „Die Stadt“ kann man gut mit Hofmannsthals „Siehst du die Stadt?“ vergleichen, weil Himmel und Gott zwar noch eine Rolle spielen, aber keine positive mehr.

Wir zeigen, wie sich hier eine expressionistische Haltung ausbreitet.

Alfred Lichtenstein

 

Die Stadt

 

01; Ein weißer Vogel ist der große Himmel.
02: Hart unter ihn geduckt stiert eine Stadt.
03: Die Häuser sind halbtote alte Leute.

04: Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel.
05: Und Winde, magre Hunde, rennen matt.
06: An scharfen Ecken quietschen ihre Häute.

07: In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du –
08: Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände…
09: Ein Haufen um ihn staunt und grinst voll Spott.

10: Drei kleine Menschen spielen Blindekuh –
11: Auf alles legt die grauen Puderhände
12: Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott.

Erste Beobachtungen und Anmerkungen:

  1. Die erste Zeile beginnt noch ganz positiv, die zweite und dritte zerstört aber jede schöne Vorstellung.
  2. Das setzt sich in der zweiten Strophe auf zunehmend drastische Weise fort.
  3. Die dritte Strophe zeigt eigentlich menschliches Leiden, das wird aber überlagert von der unmenschlichen Reaktion der anderen.
  4. Die letzte Strophe bekommt schon fast eine religiöse Dimension: Während der Mensch nur ein Spiel spielt, bei dem er nur blind ins möglicherweise Leere greifen kann, wird der Nachmittag mit einem Gott verglichen, der „verweint“ ist – wohl angesichts des ganzen Elends, das er sehen muss.
  5. Beim Puder ist es ähnlich: Direkt gemeint ist wohl eine Veränderung der Umgebung und des Lichts im Verlauf des Tages, aber die Anspielung geht eben auch in die Zeit, als Menschen sich noch puderten, um schöner auszusehen, als sie wirklich waren.