Anders Tivag, Der gute Gott von Manhattan – oder das Recht auf Vorab-Warnung – eine fiktive Antwort auf Ingeborg Bachmanns Hörspiel (Mat5004)

Worum es hier geht:

In diesem fiktiven Text geht es eine sogenannte „Triggerwarnung“, die eine Schülerin im Hinblick auf Ingeborg Bachmanns Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ für sich in Anspruch nehmen will.

Nähere Infos dazu weiter unten.

Hier nun zunächst der fiktive Text:

Es gibt dazu auch eine Audio-Fassung:

Anders Tivag

„Der gute Gott von Manhattan“ – oder die Bitte um einen Warnhinweis

Das Schöne an der Literatur ist, dass man Ideen einfach mal probeweise entfalten kann. Da beschäftigt man sich mit einem Hörspiel, das den schönen Titel trägt „Der gute Gott von Manhattan“. Schon der Titel hat einen gereizt, Gott mag zwar nach Nietzsche tot sein, aber in manchen Gegenden der Welt ist alles möglich. Und wenn er sich dann noch als „gut“ präsentiert, hofft man auf das eine oder andere Wunder.

Das passiert dann auch tatsächlich, eine Schülerin wendet sich nämlich nach einem Erstkontakt mit dem Hörspiel sorgenvoll an ihre Lehrkraft. Aber hören oder besser lesen wir sie selbst:

Sehr geehrter Herr  – den Namen lassen wir jetzt aus Datenschutzgründen natürlich weg und springen gleich zum Inhalt.

Sie haben uns ja aufgefordert, bis zur nächsten Deutschstunde uns das Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ anzuhören und uns erste Notizen zu machen, was uns auffällt und was uns dazu einfällt.

Ich bin nun nicht so der auditive Typ und brauche einige Zeit, um mich in so etwas einzufinden. Deshalb dachte ich: Gute Idee, sich vorher ein bisschen zu informieren.

Ich habe dann mal geschaut, was die Wikipedia zu dem Werk sagt und schon der erste Satz zum Inhalt hat mich doch ziemlich geschockt:

„Ekstatische Liebe zwischen Mann und Frau wird von der kapitalistischen Gesellschaft in Manhattan nach der Intention von Ingeborg Bachmann mit dem Tode bestraft.“

Ich war dann ein bisschen hin und hergerissen: Ekstase soll ja schön sein, aber Todesstrafe, das ist ja glücklicherweise kein Thema bei uns.

Dann habe ich nach dem Positiven gesucht, das wurde ja im Titel versprochen:

Dann habe ich festgestellt, dass dieser angeblich gute Gott einen Mord verübt hat. Da habe ich mir schon überlegt, worauf das wohl rausläuft.

Dann die gute Nachricht: Ein junger Mann namens Jan will seine Jennifer lieben, „bis er alt und hinfällig ist. Jennifer hätte nie geglaubt, dass Liebe so ohnmächtig machen kann. Kinder wollen beide zusammen haben. Jennifer möchte am liebsten die Zeit anhalten.“

Schon habe ich aufgeatmet, aber dann heißt es: „Solches Glück ist für den guten Gott, für den Liebe schlimmer ist als Ketzerei, keinesfalls hinnehmbar. Also muss das junge Paar „in die Luft fliegen“.

Das klingt so ein bisschen nach Mittelalter, wo auch mit dem Tode bestraft werden konnte, wer zu sehr liebte und dabei gesellschaftliche Grenzen verletzte.

Dann der Hammer: „Zwar hält der Richter die Anklage aufrecht, doch er schweigt; verurteilt den guten Gott nicht, der nur „die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ gesagt hat.“

Und damit komme ich zu meinem Problem: Wenn das die Aussage des Stücks ist, dass Liebe schlimmer ist als Ketzerei und ggf. den Tod verdient, dann möchte ich mich damit nicht weiter beschäftigen.

Und damit bin ich auch schon bei einer möglichen Lösung: Ich habe gelesen, dass in den USA Professoren ihre Studenten warnen müssen, dass gleich etwas kommen könnte, das sie verletzen könnte. Und da ich selbst noch an die Liebe glaube und gerne meine eigenen Erfahrungen machen möchte, will ich mich nicht mit den Abgründen der Liebe und ihren Todfeinden beschäftigen müssen. Ich bitte Sie also einfach, mir eine Möglichkeit zu geben, mich mit diesem Hörspiel zu beschäftigen, ohne Dinge hören und dann sicher auch lesen zu müssen, die mich belasten könnten.

Ich biete Ihnen dafür an, ein Referat über das Hörspiel „Die zwölf Geschworenen“ zu halten. Der entsprechende Spielfilm ist ja wohl im gleichen Jahr wie das Manhattan-Hörspiel entstanden. Meine Mutter hat mich darauf aufmerksam gemacht und mir gesagt, dass dort ein Einzelner seinem Gewissen folgt und einem enormen Druck seiner Gruppe standhält. Und – wie schön – am Ende bleibt dadurch jemand am Leben, zwar nur fiktiv, aber doch sehr symbolträchtig. Das scheint eine echte Alternative zu einem Hörspiel zu sein, in dem einfach mal mitleidlos eine junge Frau für einen angeblich guten Zweck sterben muss.

Mich hat übrigens ihr Schicksal an das von Luise Miller in Schillers „Kabale und Liebe“ erinnert. Das haben wir ja behandelt und sind auch auf den „Absolutismus der Liebe“ ihres Liebhabers Ferdinand eingegangen. Der vergiftet ja die Frau, die er angeblich liebt – wohl auch aus Liebe. Aber er kommt wenigstens am Ende um und sein schlimmer Intrigenvater zumindest ins Gefängnis. Und hier wagt es eine Schriftstellerin offensichtlich, so eine Tat am Ende auch noch davonkommen zu lassen.

Ich habe nichts dagegen,

  • dass sie so was nicht ihrem Psychotherapeuten und seiner Coach anvertraut, sondern meint einem Verlag anbieten zu müssen.
  • Ich habe auch nichts dagegen, dass sie einen Verlag findet und hinterher sogar einen Preis dafür bekommt.

Nur: Warum müssen wir das in der Schule lesen? Mein Vater meinte übrigens als Anwalt, dass man angesichts der Entwicklungen im Hinblick auf den seelischen Schutz von Studenten (übrigens älter als Schüler) hier vor Gericht gute Chancen hätte.

Darauf möchte ich es aber gar nicht ankommen lassen – darum diese lange Mail an Sie mit der Bitte um eine einvernehmliche Lösung, bei der ich gerne zu Ersatzleistungen bereit bin.

Und sollte ich die Einzige sein, die mit dem Hörspiel Probleme befürchtet. Dann fühle ich mich wie der eine Geschworene, der durch Eigensinn und Standhaftigkeit am Ende jemandem das Leben gerettet hat. Und ich rette auf jeden Fall schon mal meins.

Mit freundlichen Grüßen

Jennifer Etsiomnes

Anmerkungen und Anregungen:

  1. Ausgehend von diesem fiktiven Text könnte man mal darüber diskutieren, ob dieses Hörspiel wirklich so eine gute Wahl ist für den Schulunterricht – oder ob nicht „Die zwölf Geschworenen“ eher der gemeinsamen Bildung dienen.
  2. Recherchieren sollte man auch, was an Jennifers Hinweis auf amerikanische Universitäten dran ist.
    Hilfreich könnten hier die folgenden Seiten sein:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Triggerwarnung
    oder
    https://medienkompass.de/triggerwarnungen-einsatz-erklaerung-anwendung/

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

https://textaussage.de/weitere-infos