Andreas Gryphius, „Tränen in schwerer Krankheit“ – und unsere Flucht in die Kreativität (Mat4533)

Worum es hier geht:

Wir stellen von Andreas Gryphius, einem Dichter der Barockzeit, das Gedicht „Tränen in schwerer Krankheit“ vor. Dabei geht es uns zum einen um eine Klärung des Inhalts, zum anderen aber auch kritische Anmerkungen sowie Ideen, was man mit dem Gedicht anfangen könnte.

Anmerkungen zur Überschrift

Tränen in schwerer Krankheit

  • Die Überschrift des Gedichtes macht deutlich, worum es geht, nämlich um das Leiden an einer schweren Krankheit.
  • Wenn man sich ein bisschen in der Barock-Literatur auskennt, stellt man fest, dass es hier nicht um die allgemeinen Nöte durch den Dreißigjährigen Krieg zum Beispiel geht, sondern um etwas, was jeden als individuelles Unglück treffen kann.
  • Natürlich kann die Überschrift auch metaphorisch gemeint sein. Dann könnte es um die Krankheit des Landes oder der Zeit gehen.

Anmerkungen zu Strophe 1

Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht, ich sitz in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht‘ ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht‘, die Hände sinken mir.

  • Die erste Strophe beschreibt auf verschiedenartige Weise, wie es einem Menschen geht, der schwerkrank ist.
  • Was die Einzelheiten angeht, so wird hier die Unsicherheit des lyrischen Ichs im Hinblick auf seinen Zustand deutlich. Dementsprechend befürchtet es auch noch eine Verlängerung oder Verschlimmerung der Krankheit.
  • Deutlich wird auch, dass die Krankheit sich nicht nur auf den Körper, sondern auch auf den Geist, das Bewusstsein, das Denken des Menschen auswirkt.

Anmerkungen zu Strophe 2

Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.
Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märzen.
Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?

  • Die zweite Strophe setzt die Beschreibung der Begleitphänomene der schweren Krankheit fort.
  • Interessant ist die Heranziehung von Vergleichen.
  • Am Ende dann die Verallgemeinerung: Jetzt geht es nicht mehr nur um den akuten Krankheitszustand, sondern das Leben der Menschen allgemein.
  • Das kann einmal verstanden werden in der Weise, dass ein kranker Mensch nur noch seine Krankheit sieht und alles vergisst, was er auch schon Schönes erlebt hat.
  • Es kann natürlich auch sein, dass das ganze menschliche Leben auf eine bestimmte Art und Weise als krank empfunden wird. Das müsste dann allerdings noch genauer erläutert werden.

Anmerkungen zu Strophe 3

Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Jetzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben:
Jetzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

  • In der dritten Strophe geht es dann so los, wie man es von Gryphius erwartet. Jetzt wird wirklich nur noch das Negative gesehen und der konkrete Krankheitszustand zum Grundgefühl und zur Grundsituation des gesamten Lebens gemacht.
  • Sehr problematisch und nur aus dem Denken der Zeit heraus verständlich ist die Fixierung auf die Gefahren des Morgen.
  • Jeder kluge Mensch weiß, dass das nicht gerade die Stimmung befördert und tatsächlich dazu führen kann, dass man am Ende seines Lebens nur noch auf reale oder bereits vorweggenommene schlimme Zustände zurückblickt.
  • Ebenso fragwürdig ist die Konsequenz, die aus einer schweren Krankheit gezogen wird. Den Menschen wird jede Bedeutung, die Möglichkeit der Freude am Leben abgesprochen.
  • Hier scheint sich ein ganz bestimmtes christliches Denken zu zeigen, das es schon in früheren Zeiten in der Form von Askese gab.
  • Das ist zur Zeit von Gryphius natürlich verstärkt worden durch den menschenmörderischen Dreißigjährigen Krieg.

Anmerkungen zu Strophe 4

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Jetzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

  • Die vierte Strophe bietet inhaltlich nicht mehr viel Neues.
  • Die drei Grundgedanken
    • der absoluten Nichtigkeit des menschlichen Lebens,
    • der ständigen Bedrohung durch eine schlimme oder noch schlimmere Zukunft
    • und der Vergleich des gesamten Lebens mit einem Angsttraum.

Anmerkungen zu den Aussagen des Gedichtes

  • Das Gedicht zeigt eine Grundhaltung, wie sie sich in Gedichten der Barockzeit vielfach, aber besonders bei Gryphius zeigt.
  • Das Besondere dieses Gedichtes ist höchstens, dass es vorgibt, von einer konkreten Krankheitssituation auszugehen.
  • Man hat er aber nicht den Eindruck, dass das lyrische Ich an der konkreten Krankheit und auch den möglichen Chancen einer Heilung interessiert ist.
  • Sondern diese Krankheit wird nur auf die übliche Art und Weise verwendet, um das Leben insgesamt schlecht zu machen.

Anmerkungen zur Kritik und zu kreativen Möglichkeiten

  • Was diesem Gedicht auch fehlt, ist jede Originalität. Das scheint sowieso ein Grundproblem der Barockzeit zu sein, dass die Dichter als eine Art Handwerker immer das bestimmte Schema abliefern, das anscheinend auch von Ihnen erwartet wird, zumindest von ihrer Peergroup, d.h. den anderen Dichtern und den Abnehmern ihrer Kunst an den Fürstenhöfen und im Bürgertum.
  • Diese Kritik bedeutet natürlich nicht, dass es sich bei diesem Gedicht und vergleichbaren Werken der Barockzeit nicht um hohe Kunst handelt. Sonst hätten sie auch gar nicht die Jahrhunderte überlebt.
  • Es stellt sich nur die Frage, aus welchen Gründen und mit welchen Zielen man sie im Deutschunterricht behandelt werden. Auf jeden Fall wäre es fatal, wenn man Schülern nicht die Möglichkeit gibt, sich kritisch oder auch kreativ mit dieser Geisteshaltung auseinanderzusetzen, die nicht dem entspricht, was moderne Menschen heute wohl für ein gutes Leben brauchen.
  • Man könnte etwa Gryphius einen fiktiven Brief schreiben – so wie es Anders Tivag, ein Deutschlehrer, mal spielerisch seinen Schülern und Schülerinnen vorgemacht hat:
    1. „Andreas, ich weiß ja, dass du in einer schweren Zeit gelebt hast, aber warum musst du gerade von einer schweren Krankheit ausgehen?
    2. Gerade da braucht man doch Hoffnung und Zuversicht. Die große Kunst des Lebens besteht doch gerade darin, immer noch etwas Gutes zu entdecken oder etwas zu sehen, aus dem sich etwas Gutes machen lässt.
    3. Aber ich glaube, es ging dir gar nicht um eine schwere Krankheit, sondern die hast du nur benutzt, um das immergleiche Lied von der Nichtigkeit des irdischen Lebens zu singen.
    4. Aber dann wäre es doch wenigstens schön gewesen, wenn du uns ein bisschen durch die Wolken zum Himmel hättest schauen lassen.
    5. Und dass wir Menschen nicht unbedingt „hoch und groß, und morgen schon vergraben“ sein müssen, dafür bist du doch selbst das beste Beispiel. Du gehörst doch heute noch, nach ein paar Jahrhunderten immer noch zu den großen deutschen Dichtern – und ich werde auch versuchen, dass man nach meinem unvermeidlichen Abgang aus dieser Welt noch lange an mich denkt.
    6. Versprochen.“
  • Übrigens konnte Herr Tivag sich anschließend gar nicht vor kreativen Vorschlägen retten, was die weitere Beschäftigung mit Literatur anging – zur Nachahmung empfohlen 😉

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