„Ein Tisch ist kein Tisch!“ – Warum wir nicht in Begriffen, sondern in Vorstellungen denken
Ausgehend von der berühmten Kurzgeschichte Peter Bichsels wird gezeigt, dass es neben der „begrifflichen Definition“ noch eine „begriffliche Vorstellung gibt, die im Alltag eine viel größere Rolle spielt – es sei denn, man bewegt sich im Bereich einer Fremdsprache. (Arbeitsblatt mit Aufgaben)
Hier noch eine Lese-Vorlage:
Es gibt eine wunderschöne Geschichte von Peter Bichsel, in der ein alter Mann anfängt, einfach mal so aus Spaß allen Dingen in seinem Umfeld neue Namen zu geben. Und so heißt dann bei ihm plötzlich der Tisch “Teppich” – und er freut sich riesig über die neuen Möglichkeiten und die Abwechslung, die das in sein Leben bringt. Es ist auch völlig legitim, was er da macht, denn es entspricht dem, was der Sprachwissenschaftler de Saussure die „Arbitrarität“ (“Willkürlichkeit”) der Beziehung zwischen der Bezeichnung (also dem Wort) und dem Bezeichneten (also der Vorstellung), für die es steht, genannt hat. Ein wunderschönes Spiel – das allerdings zwei Haken hat:
Der erste besteht darin, dass das neue Wort für “Teppich” schon besetzt ist – es muss also weiter getauscht werden. Aber auch das ginge noch, wenn die zweite Bedingung für die Veränderung der Sprache erfüllt würde:
Die anderen müssen die neue Kombination von Wort und Vorstellung auch übernehmen – und das tun sie in der Geschichte und wohl auch in der Realität nicht. So wird der alte Mann seiner Umwelt immer fremder, kann sich mit ihr nicht mehr verstehen. Aus dem schönen Spiel wird ein trauriger Ernst.
Insgesamt also eine schöne Geschichte, die etwas Wesentliches verrät über das Wesen der Begriffe:
Sie sind nämlich so eine Art Etikett, das man den Dingen aufkleben kann. Anschließend kann man sich leichter verständigen. Ein Tisch ist dann eine glatte Fläche, die mindestens ein Bein hat, auf dem man etwas ablegen kann, um damit etwas zu tun. Eine Kommode hat auch Beine, auf ihr kann man auch Dinge ablegen – aber man wird dort normalerweise nicht arbeiten.
Insgesamt scheint jetzt alles klar zu sein – aber dann liest man plötzlich in einer Biografie (1) über den Philosophen Heidegger, dass der seine Studenten ziemlich verstört habe. Er machte ihnen nämlich am Beispiel seines Katheders, also das Stehpult, von dem aus ein Redner sich äußert, klar, dass unser erster Zugriff auf die Dinge nicht über den Begriff läuft. Wenn er in den Hörsaal kommt, sieht er den Gegenstand, aber er denkt nicht an seine notwendigen Kennzeichen, um dem Begriff “Katheder” gerecht zu werden, sondern er denkt daran, dass er dort schon so oft gestanden hat, dass dort noch ein Buch liegt, das dort nicht hingehört und Ähnliches mehr.
Wir verlassen jetzt mal die Philosophiegeschichte und wenden uns den Alltagserfahrungen zu: Zwei Freunde laufen durch die Stadt und sehen das gleiche Automodell: Der eine bewundert die sportliche Form, freut sich über das Aufheulen des Motors und den rasanten Start an der Ampel. Der andere sieht darin nur eine völlig sinnlose Geldausgabe, für die er nicht mal Platz für seine fünfköpfige Familie bekommt. Oder nehmen wir das Bild einer Burg: Wer sich gerne an alten Gemäuern erfreut, der sieht unendlich viel Romantik und möchte bis zum Sonnenuntergang bleiben. Der Fachmann sieht vor allem, dass die Burg nicht echt ist, sondern für einen
Liebhaber im Burgenstil gebaut wurde. Jemand, der woanders eine Burg gekauft und mühsam hat restaurieren lassen, der erkennt auf einen Blick, wieviel auch an dieser Burg zu tun ist und was das wohl kosten wird.
Langer Rede kurzer Sinn: Wir brauchen Begriffe, also die Verständigung, dass man für eine bestimmte Art von Dingen ein bestimmtes Wort verwendet. Aber wenn das Ding auftaucht, denkt kaum jemand an das Wort, sondern an seine Beziehung zu diesem Ding. Man merkt das spätestens an den Reaktionen der Familienmitglieder, wenn sie eine fremde Stadt besuchen und zum Beispiel plötzlich vor ihnen eine Kirche auftaucht, vor allem, wenn es schon die dritte oder vierte an diesem Tag ist.
1 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, E-Book, Pos.1916
Aufgaben:
- Was soll die kurze Zusammenfassung der Geschichte von Peter Bichsel zu Beginn des Textes zeigen?
- Welchen anderen Zugang zu den Dingen zeigt das Kathederbeispiel?
- Bringe ein eigenes Beispiel dafür, dass Menschen, wenn sie etwas sehen, nicht als erstes an den Begriff denken, sondern an das, was sie mit dem Gesehenen verbinden!
- Wieso ist dieser Ablauf anders, wenn man als Deutscher zum Beispiel in Frankreich in einen Laden geht und dort nach Senf oder Kaugummis fragt?
- Wie könnte man diesen Unterschied zwischen „begrifflicher Definition“ und „begrifflicher Vorstellung“ in einem Schaubild darstellen?
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