Anstoßtext: „Gehorche keinem – oder wie viel Anpassung muss sein“ (Fiktive Rede) (Mat283)

Worum es hier geht:

  • Im Unterricht braucht man als Lehrer immer wieder Texte, die Nachdenklichkeit erzeugen und Diskussionen „anstoßen“. In diesem Falle geht es um die Frage, wie viel Gehorsam die moderne demokratische Gesellschaft braucht.
  • Ausgangspunkt ist das neue Motto der Westfälischen Wilhelms Universität in Münster: „Gehorche keinem“. Es wird zum Anstoß genommen für eine fiktive Schulkonferenz an einem fiktiven Gymnasium. Dort reagiert ein eher konservativer Lehrer auf einen Antrag der SV, das Motto für die Schule zu übernehmen.
  • Fiktive Rede gegen die Übernahme des Mottos „Gehorche keinem“

Rede gegen das Motto „Gehorche keinem“

Zur Situation der Rede: Im Oktober 2009 wurde als Geschenk der Landesregierung an die Universitätsbibliothek Münster in großen roten Buchstaben über dem Eingangsbereich das Motto angebracht: „Gehorche keinem“. Es wurde künstlerisch gestaltet von Babak Saed, einem im Iran geborenen Bonner Künstler, und soll den Studierenden Mut zur Gedankenfreiheit machen.

Die SV des (fiktiven) Münsteraner Kiepenkerl-Gymnasiums fand die Idee so gut, dass sie den Antrag an die Schulkonferenz einbrachte, das Motto auch an ihrer Schule anzubringen. Einer der Lehrervertreter in der Schulkonferenz, Peter Bergenkötter, nimmt dazu in einer Rede Stellung, die unten abgedruckt ist.

Aufgabenstellung:

  1.  Analysiere die Rede, indem du
    1. sie in einer Einleitung mit Hinweis auf Verfasser, Kontext und Thema kurz vorstellst,
    2.  anschließend den Gedankengang gliedernd vorstellst,
    3.  dann die Position des Verfassers knapp zusammenfasst,
    4.  die rhetorische Eigenart und die deiner Meinung nach wichtigsten drei bis fünf rhetorischen Mittel vorstellst.
  2. Nimm Stellung zum Text und zum Thema.

Text der Rede

Zunächst einmal kann ich verstehen, dass junge Menschen das Motto reizvoll finden, schließlich befinden sie sich in einer Phase ihres Lebens, in der der Protest vor allem gegen die Erwachsenenwelt einfach dazu gehört. Ich als Lehrer weiß nun wirklich, wovon ich rede. Aber die Frage ist, ob dieses Motto wirklich geeignet ist, gewissermaßen einer ganzen Schule an die Stirn gemalt zu werden. Ich sehe schon beim nächsten Elternsprechtag Mütter und Väter vor mir sitzen, die sich verzweifelt bemühen, wenigstens etwas Ordnung in das pubertäre Chaos ihrer Kinder zu bringen – und dann berufen die sich einfach auf die Schule und ihren neuen Grundsatz. Oder ich denke an den Hausmeister, der jetzt schon einen großen Teil seiner Arbeitszeit damit vertut, den ganzen Müll aufzusammeln, den ihm in dem Punkt überaus selbstständige junge Menschen nach den großen Pausen hinterlassen. Oder nehmen wir
– gerade jetzt in der dunklen Jahreszeit – den morgendlichen Start in den Schultag. Noch heute Morgen wäre ich fast von drei jungen Damen umgeradelt worden, weil sie es für ihr natürliches Menschenrecht hielten, mit ihren Fahrrädern über den Schulhof zu flitzen. Wahrscheinlich hatten sie morgens zu viel Zeit im Badezimmer verbracht.
Als ich sie auf die Schulordnung hinwies, erntete ich nur verständnislose Blicke. So ist das eben, wenn man nur das tut, was man selbst für richtig hält und keine Rücksicht auf andere nimmt. Die aber gibt es nie von selbst – die muss immer erkämpft werden, bis, ja bis sie schließlich zur Selbstverständlichkeit wird. Und bei diesem Kampf, da brauchen wir nun wirklich keine Sprüche dieser Art, die in ihrer Schwarz-Weiß-Malerei weniger zum Denken hinleiten als vielmehr Vorurteile verstärken. Ich kann ja verstehen, dass kurz nach der Barbarei der Nationalsozialisten viele Deutsche erschrocken waren über den zu großen Gehorsam gegenüber den verbrecherischen Vorgaben Hitlers und seiner Gefolgsleute. Aber dieser richtige und notwendige Schrecken darf doch nicht auf Dauer dazu führen, dass das Pendel jetzt zur anderen Seite ausschlägt. Wir brauchen eben auch Menschen, die erst einmal das tun, was man ihnen sagt. Wo kommen wir in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft hin, wenn jeder tut, was er will, oder jeder sich erst mal in sein stilles Kämmerlein zurückzieht, um drüber nachzudenken, ob eine Anweisung oder Regelung auch richtig ist. Ich meine, so unangenehm ist mir der Gedanke gar nicht, über meine Steuerpflicht nachzudenken und vielleicht weniger Geld ans Finanzamt zu überweisen – da kann ich wirklich lange drüber nachdenken, ob das
richtig ist, was mit meinem Geld gemacht wird. Jedenfalls hätte unsere Landesregierung das Geld sinnvoller ausgeben können als für dieses aberwitzige Geschenk. Aber ich zahle eben brav meine Steuern – und das ist auch gut so.
Also – lange Rede kurzer Sinn: Gedankenfreiheit ist eine schöne Sache, nur sollte man sie nicht zum Motto für alles und jedes machen – und schon gar nicht zur Basis von Unordnung, Chaos und Leistungsverweigerung. Freiheit bedeutet vor allem – wie der Dichter Friedrich Schiller es so schön formuliert hat, das Notwendige freiwillig zu tun. Jeder mag also über seine Pflichten nachdenken – und sie dann auf seine Weise erfüllen. Dazu haben wir die jungen Menschen zu erziehen – deshalb: Nehmen wir nicht dieses Motto, sondern – wenn schon überhaupt – dann lieber aus Schillers Drama „Wallensteins Tod“: „Wo viel Freiheit, ist viel Irrtum, doch sicher ist der schmale Weg der Pflicht.“

(entn: „Na endlich“ – Zeitschrift für Schule und Unterricht, © www.schnell-durchblicken.de, 2009

Druckfassung

Mat283 Anstosstext Fiktive Rede – Gehorche keinem