Aristoteles oder: der Ernst des Lebens – Katharsis heute (Sachtext) (Mat8025)

Lars Krüsand,
Aristoteles oder: der Ernst des Lebens – Katharsis heute
Katharsis ist normalerweise ein Fachbegriff aus dem Umfeld des Theaters und der Geschichte der Beschäftigung mit ihm. Wir überlegen einfach mal, ob nicht viel mehr in ihm steckt. Vielleicht könnte er sogar dazu beitragen, die eine oder andere Misere unserer Gegenwart zu mildern.
„Katharsis“ – das ist in der Regel ein Begriff, den junge Menschen vielleicht irgendwann mal kennenlernen, wenn es um die Geschichte des Theaters geht. Da gab es doch diesen alten Griechen Aristoteles, der sich mit dem Vorwurf seines Kollegen Platon auseinandersetzen musste, die Literatur und besonders auch das Drama enthalte nichts als Lügen. Viel Verständnis für die Kraft des Poetischen, jenes „Singen“ der Dinge, das der Dichter Eichendorff in seinem Gedicht „Wünschelroute“ erwecken will, war da noch nicht vorhanden. Aber immerhin zwang Plato seinen Kollegen, über die gesellschaftliche Bedeutung von Literatur nachzudenken – und eine plausible Erklärung zu liefern.
Und tatsächlich hat er da etwas geliefert, was jahrhundertelang intelligente Menschen nachdenklich stimmte und nach einem genaueren Verständnis suchen ließ.
Entscheidend ist dabei, was in Wikipedia so beschrieben wird: „Durch das Durchleben von Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder (von griechisch éleos und phóbos, von Lessing auch mit Mitleid und Furcht übersetzt) erfährt der Zuschauer der Tragödie als deren Wirkung eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen (Poetik, Kap. 6, 1449b26)“
Man sah, was König Ödipus passierte. Ohne eigene Schuld wurde er zum Mörder seines Vaters und heiratete, ohne es zu wissen, seine Mutter. Und man lernte etwas für das Leben, nämlich, dass immer mehr oder weniger ein „Ver-hängnis“ droht, also das Schicksal für einen etwas „vorhält“, dem man nicht entrinnen kann.
Dieses Gefühl für schicksalhafte Verhängnisse ist heute weitgehend verschwunden. Alles scheint machbar – und wenn es einen doch trifft, dann bleibt nur die Klage, warum es gerade einen selbst getroffen hat.
Nun kann man sich natürlich fragen, ob der nicht glücklicher ist, der sich nicht viele Gedanken macht, was ihm vielleicht passieren könnte. Vor allem, wenn er es sowieso nicht ändern kann. Übersehen wird dabei, dass das Gefühl für den Ernst des Lebens auch eine Bereicherung darstellen kann. Das können viele bezeugen, die durch eine ernste Erkrankung oder einen anderen Schicksalsschlag gezwungen worden sind, ihr Leben mal ganz anders zu betrachten. Häufig haben sich dann Gewichte und Einschätzungen verschoben und man lebte intensiver.
Der gewissermaßen „heilsame“ Schrecken kann also wirklich zu einem besseren Leben führen, weil man mehr darüber nachdenkt, was wirklich wichtig ist. Auf jeden Fall sollte das nicht so sehr ausgeblendet werden, wie es in der gesellschaftlichen Praxis häufig zu sehen ist. Das gilt auch in Schule und Erziehung, wo Menschen kaum noch ein Gefühl dafür bekommen, dass bei falschem Verhalten etwas massiv und vielleicht unrettbar schiefgehen kann beziehungsweise man sich zumindest „vor-sehen“ sollte, wie es früher hieß. Vielleicht muss auch über die abschreckende Funktion von Strafen noch einmal nachgedacht werden. Der schlimm klingende Satz „bestrafe einen und erziehe damit hundert“ wird nicht dadurch falsch, dass man ihn nicht mag. Bei Geschwindigkeitskontrollen ist es üblich, dass die, die noch einmal davongekommen sind und andere haben zahlen sehen, für einige Zeit vorsichtiger fahren. Vielleicht hätten manche Leute auch die billigen Baugrundstücke im Überschwemmungsgebiet eines Flusses gar nicht oder anders genutzt, wenn sie Gelegenheit bekommen hätten, mit Schrecken die Gefahren zu erleben – zumindest in einem Bericht.
Nun gehört bei Aristoteles zur Katharsis auch die „Rührung“. D.h., es geht auch um so etwas wie eine innere Erschütterung, die dann auch zu einem echten Mitgefühl mit dem Schicksal eines anderen führt. Da ist es dann nicht mit einer kurzen, durchaus herzlichen Umarmung getan. Vielmehr geht es um Engagement, im Bewusstsein, dass das man diese Hilfe auch selbst hätte brauchen können.
Ziehen wir ein vorläufiges Fazit: Nicht nur das Theater sollte wieder stärker über die ganze Wirklichkeit des Lebens aufklären und damit einen Beitrag leisten zu wirklichem Wissen um die Gefahren und Abgründe der Existenz. Das gilt auch – wie schon gesagt – für Schule und Erziehung, wo man auch junge Menschen stärker mit den Folgen ihres Tuns konfrontieren sollte – natürlich entsprechend ihrem Alter und immer mit einem Notausgang. Den verdient jeder Mensch, aber er darf nicht ganz ohne „Schmerzen“ zu erreichen sein. Damit sind natürlich keine körperliche Strafen o.ä. gemeint, auch wenn es früher mal Leute gab, die sagten, eine Ohrfeige habe sie auf einen besseren Weg gebracht. Dabei werden meistens die Menschen nicht berücksichtigt, bei denen die damit verbundene seelische Verletzung nichts Gutes, sondern eher das Gegenteil bewirkt hat.
Aber wenn etwas nicht zu der von Aristoteles gemeinten inneren Erschütterung führt, dann wird es auch keine Änderung bewirken. Beziehen wir also den heilsamen Schrecken als die notwendige Voraussetzung für eine innere Neusortierung der Gewichte wieder stärker ein und kleben nicht zu schnell Pflaster auf eine noch „arbeitende“ Wunde. Medizin muss eben manchmal auch bitter sein. Hauptsache, sie wirkt.

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