Worum es hier geht:
Stellen wir uns vor, jemand soll und/oder will eine Facharbeit schreiben, in der es um einen Vergleich des altgriechischen Epos von Homer „Ilias“ und das mittelalterliche „Nibelungenlied“ geht.
Er stößt bei seinen Recherchen auf eine Doktorarbeit, die im Internet verfügbar ist. Damit kann er natürlich Eindruck machen. Wir zeigen jetzt mal, was man aus dieser Arbeit für seine eigene Untersuchung herausholen kann.
Marlon Auernig,
“Vom zürnenden Gott zur genetischen Disposition – Die Denkfigur des Schicksals in der Geschichte des Abendlandes“ – Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie in der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, 2011
Zu finden ist diese Doktorarbeit hier.
1. Das Thema der Doktorarbeit
In dieser Doktorarbeit geht es letztlich um die Frage, wie sich die Vorstellung von einem durch die Götter vorher bestimmten Schicksal bei den alten Griechen zum heutigen Glauben an die Selbstbestimmung des Lebenslaufs entwickelt hat.
2. Die Idee von der Vorherbestimmtheit des menschlichen Schicksals
Während bei den alten Griechen das gesamte Leben eines Menschen im Prinzip vorher bestimmt war, gibt es heute entsprechende Vorstellungen eigentlich nur noch im Bereich der Genetik. Man denke hier etwa an Erbkrankheiten.
3. Die Bedeutung von Prophezeiungen bei den alten Griechen
Am deutlichsten kann man die vorher Bestimmung des Schicksals in den griechischen sagen erkennen: was Homers Epos „Ilias“ angeht, kennen die meisten von uns nur den Trick mit dem Trojanischen Krieg. Viel wichtiger in unserem Zusammenhang sind aber die Prophezeiungen, die dem Helden Achilles mit auf den Weg gegeben wurden: Zum einen war damit klar, dass die Griechen Troja nur mit seiner Hilfe erobern konnten. Andererseits war ihm vorherbestimmt, selbst Opfer dieses Feldzugs zu werden. Dieses Schicksal ist gewissermaßen die Grundlage des ganzen Epos.
4. Ödipus als Paradebeispiel für die Unentrinnbarkeit des Schicksals
Wie wenig der Mensch dagegen tun konnte, wird am Schicksal des Ödipus deutlich: sein Vater hatte versucht, die Prophezeiung, dass sein Sohn ihn töten würde, dadurch zu entgehen, dass er ihn in der Fremde aussetzen ließ. Aber gerade dadurch kam es später zu der Zufallsbegegnung, in der Ödipus einen ihm unbekannten Mann im Kampf tötete, der sich dann als ein Vater herausstellte.
5. Der andere Zeitbegriff der alten Griechen
Dass die Prophezeiungen der Orakel zumindest in den sagen am Ende immer eintrafen, hängt mit dem Zeitbegriff der alten Griechen zusammen. Sie gingen nämlich im Unterschied zur späteren Entwicklung davon aus, dass es eigentlich keine lineare Zeit gibt, die gesamte Geschichte der Welt und auch der einzelnen Menschen damit eigentlich von vorne rein festgelegt und deshalb im Orakel auch vorausgesagt werden konnte.
6. Kriemhilds Traum und seine Erfüllung
Etwas Ähnliches gibt es noch im Nibelungenlied. Der Verfasser verweist darauf, dass die gesamte Entwicklung um den Hilde Siegfried im prophetischen Traum seiner späteren Ehefrau Kriemhild bereits festgelegt erscheint: die sieht nämlich einen Adler, den sie aufzieht, der aber von zwei wilden Falken zerfleischt wird. Tatsächlich Sind für Sigrids Tod ihr Bruder Gunther und dessen wichtigste Lebensmann, Hagen, verantwortlich. Und gerade der Versuch Kriemhilds, ihren Mann zu schützen, indem sie Hagen die einzige Stelle zeigt, an der er nach dem Bad im Drachenblut verletzt werden kann, ermöglicht seine Ermordung.
7. Die schicksalhafte Erfahrungswelt des Nibelungenliedes
Natürlich muss man so etwas wie diese Mythen nicht mehr so ernst nehmen wie die Griechen. Man darf aber nicht vergessen, dass es sich um Geschichten handelte, in denen viel Lebensweisheit steckte. Beim Nibelungenlied war das eben der berühmte Streit der Königinnen Brunhild und Kriemhild. Zunächst wurde Brunhild tief gedemütigt, dann konnte sie sich mit Hilfe von Hagen rächen. Kriemhild wiederum verschaffte sich eine tödliche Genugtuung, indem sie ihren Bruder und seine Gefolgsleute in den Untergang im Land der Hunnen lockte.
8. Das Nibelungenlied mit Ähnlichkeiten zur Ilias
Interessant, dass das mythische Grundmuster aus Homers Ilias von der Vorherbestimmung des menschlichen Schicksals auch noch für die Nibelungensage gilt. Aber die ist im christlichen Mittelalter eben noch stark von altgermanischen Vorstellungen bestimmt.
9. Die Veränderung des Schicksalsbegriffs
Schon bei den alten Griechen gab es Ansätze, die dem Menschen zumindest die Suche nach Spielräumen zusprachen. Das Christentum spielte dann eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Idee des Fortschritts, also eines linearen und zielgerichteten Zeitbegriffs. In dem Zusammenhang entwickelte sich die Idee von der Selbstbestimmung des menschlichen Schicksals, die für uns heutige maßgeblich, ja selbstverständlich zu sein scheint.
10. Die Frage für uns …
Vor diesem Hintergrund mag man vertieft darüber nachdenken, wie große die Spielräume sind, die jeder Mensch heute hat oder zu haben glaubt.
Hier noch einmal der Link zu der Doktorarbeit, die wir hier ausgewertet haben:
https://netlibrary.aau.at/obvuklhs/content/titleinfo/2415576