Worum es hier geht:
Im Folgenden gehen wir einer Frage nach, die sicher selten gestellt wird.
Wir werden aber sehen, dass die nähere Beschäftigung mit dem Personenverzeichnis eines Stückes durchaus etwas bringen kann, selbst wenn möglicherweise Lessing selbst sich weniger Gedanken dazu gemacht haben sollte 😉
Beispiel für ein Personenverzeichnis
Zu Beginn des Dramas „Nathan der Weise“ werden die folgenden Personen aufgeführt.
- Sultan Saladin
- Sittah, dessen Schwester
- Nathan, ein reicher Jude in Jerusalem
- Recha, dessen angenommene Tochter
- Daja, eine Christin, aber in dem Hause des Juden,
- als Gesellschafterin der Recha
- Ein junger Tempelherr
- Ein Derwisch
- Der Patriarch von Jerusalem
- Ein Klosterbruder
- Ein Emir
- nebst verschiednen Mamelucken des Saladin
Auswertung
- Die Frage ist etwas ungewöhnlich, erscheint vielleicht auch unsinnig – aber zumindest im normalen Unterricht könnte sie schon auftauchen, einfach, weil man dann Beziehungen zum Inhalt des Stückes prüfen muss.
— - Als erstes kann man feststellen, dass das Verzeichnis ziemlich kurz ist, das entspricht der Konzentration des Dramas auf das besondere Problem Nathans.
— - Interessant, dass nicht Nathan als erstes genannt wird, sondern der Sultan. Das kann aus Achtung vor seiner Stellung geschehen sein, vielleicht aber lässt es sich auch aus Lessings Sympathie gegenüber dem Islam her erklären. Immerhin wird der Sultan hier ja auch als weiser, sehr toleranter Herrscher gezeigt und ist in vielem ein Gegenbild zu den doch recht martialisch auftretenden christlichen Kreuzrittern.
— - Dass Sittah als die Schwester des Sultans dann als nächste genannt wird, kann einfach damit zusammenhängen, dass Lessing die Figuren gruppieren wollte.
— - Bei Nathan fällt auf, dass er gleich als „reicher Jude“ präsentiert wird, was dem einen oder anderen problematisch vorkommen kann, aber im Stück selbst spielt der Reichtum ja eine geringere Rolle als die Menschlichkeit und Weisheit. Dieser Kontrast mag Absicht sein.
— - Interessant, dass bei Nathan der Ort hinzugefügt wird, vielleicht um darauf hinzuweisen, dass Juden nach ihrer Verstreuung in der ganzen Welt in römischer Zeit in Jerusalem nicht unbedingt einen Normalfall damals dargestellt hatten. Ihre schwierige Lage zeigt sich ja auch, als Nathan durch den Sultan mit seiner Frage herausgefordert wird und zwischen die Fronten der Mächtigen gerät.
— - Bei Daja wird dann der Konflikt zwischen den Religionen angesprochen, so wie er sich dann im Stück auch darstellt.
— - Vorher aber wird Recha genannt, was eine Parallele zum Saladin-Sittah-Verhältnis ist. Wichtig ist, dass hier gleich das „angenommene“ hervorgehoben wird, was ja angesichts der besondreren Umstände mehr als gerechtfertigt ist.
— - Der Tempelherr wird sehr zurückhaltend eingeführt, aber der Name kann hier nicht gut genannt werden, ohne zu viel vorwegzunehmen.
— - Die letzten vier einzeln aufgeführten Figuren, der Derwisch, Patriarch, der Klosterbruder und der Emir werden ohne jede Kommentierung genannt, immerhin deutet sich hier ein Gemisch der Religionen und Kulturen an.
— - Die am Schluss genannten Mamelucken sind wohl eher schon Kulisse und spielen ja auch nur an einer Stelle eine Rolle.
— - Wenn man das jetzt alles zusammenfasst, so hat Lessing sich möglicherweise gar nicht so viele Gedanken gemacht bei der Zusammenstellung des Personenverzeichnisses. Es hat sich aber gezeigt, dass so ein Verzeichnis eben auch für sich selbst spricht und man in der Beschäftigung damit zu allerlei interessanten Überlegungen und Erkenntnissen kommen kann.
— - Als letztes sollte man noch kurz versuchen, sich in die Lage eines damaligen Theaterbesuchers zu versetzen, der keine näheren Informationen hatte, was sich hinter „Nathan der Weise“ verbirgt. Der wird möglicherweise nur kurz über das Blatt geschaut haben und hat sich wahrscheinlich zugleich entspannt und gespannt zurückgelehnt und sich auf ein Stück gefreut, in dem zumindest im Verzeichnis ein Sultan und ein Patriarch neben der Titelfigur herausragen. Möglicherweise hat er inter näheren Kennzeichnung Rechas als „angenommene Tochter“ ein spannendes Geheimnis erhofft.
Weitere Infos, Tipps und Materialien
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