Hans Bender, „Die Wölfe kommen zurück“ – eine Kurzgeschichte, die ihr Thema verfehlt? (Mat7072)

Worum es hier geht:

Es geht um das Video: „Auch Dichter sind nicht immer gut“ – oder: Wie kann man Schüler zu Literaturkritik ermutigen?!

Das Video zeigt am Beispiel der Kurzgeschichte „Die Wölfe kommen zurück“, dass auch bei einem guten literarischen Text mal eine Stelle sein kann, die nicht ganz so gelungen ist.

In diesem Falle wird sogar versucht, eine bessere Variante anzudeuten.

Diese Geschichte ist sehr berühmt, steht auch in vielen Schulbüchern und Kurzgeschichten-Sammlungen.

Wir selbst finden sie interessant, erzählerisch aber ziemlich misslungen. Die im Text eingebaute Überhöhung durch ein allgemeines Statement zum Umgang der Menschen miteinander und mit einer großen Gefahr passt nämlich gar nicht zum Inhalt der Geschichte selbst

Etwas Ungewöhnliches vorab – Kritik an einer Dichtung?

In der Schule ist es sehr wichtig, dass Literatur nicht nur staunend und bewundernd „rezipiert“ wird, sondern Schüler auch lernen, aktiv mit ihr umzugehen. Dazu gehört auch Kritik.

Im Falle dieser Kurzgeschichte geht es dabei um den auch allgemein wichtigen Punkt: Soll der Dichter sich über den Erzähler einmischen und was sollte er dabei beachten.

Wir haben das in einem kleinen Video mal versucht herauszuarabeiten.

Dokumentation

Kurz-Info zu Thema und Inhalt
Umgang von Menschen mit den Gefahren des Krieges und der Natur

Inhaltsangabe:
In der Kurzgeschichte geht es um ein Dorf in Russland, dessen Vorsteher (Starost) einige deutsche Kriegsgefangene in seiner Gemeinde unterbringen muss. Einer von ihnen spricht russisch und kommt mit der Familie des Dorfvorstehers in näheren Kontakt. Er freundet sich ein wenig mit der Tochter und dem Sohn der Familie an, die einen weiten Weg durch freies Gelände und Wälder zur Schule in der Nachbarstadt zurückzulegen haben. Durch den Krieg sind die Wölf weit nach Osten bis nach Sibirien vertrieben worden, was den Verkehr der Menschen untereinander stark erleichtert.
Als die Kinder dann eines Tages erzählen, dass sie wieder Wolfsspuren gesehen haben, will der Starost das nicht wahrhaben. Schließlich sieht er aber selbst eins der gefährlichen Tiere und geht zusammen mit dem Gefangenen in seinem Haus – nur mit einer Axt und einer Sense bewaffnet, den Kindern entgegen, die sich auf dem Heimweg befinden.
Gerade als sie sie wohlbehalten erreicht haben, erscheint eine riesige Masse an Wölfen, die sich aber erstaunlicherweise gar nicht für die verängstigten Menschen am Wegrand interessieren, sondern an ihnen vorüberlaufen.

 

Ausnahmsweise erst mal eine selbstkritische Vorbemerkung zu den folgenden Überlegungen zur Aussage:

Bei unserem ersten Zugriff wurde zu wenig beachtet, dass die umstrittene Stelle beginnt mit „So zogen Heere in die Städte der Feinde …“ Der gefährliche Zug der Wölfe wird also verglichen mit Kriegszügen. Das Problem bleibt aber, dass die ganze Geschichte nichts von dieser Gefährlichkeit zeigt, es gibt nur den plötzlich einbrechenden Vergleichshinweis des Erzählers. Er hätte das zumindest deutlich als Reflexion einer Figur einbringen können. Nur der Einwand bleibt: An der Stelle passt er nicht zum Angst-Denken der bedrohten Personen.

Den Schlusssatz könnte man dann so interpretieren, dass – sobald Frieden eingekehrt ist und damit auch wieder etwas Wohlstand – der nächste Kriegszug kommt.

In einer Interpretation wird auf zwei tröstliche Dinge verwiesen, die auch zur Aussage der Geschichte gehören (können):

1. Die Menschen halten zusammen und verhalten sich da angeblich klug
Unser Kommentar dazu: auf die Dummheit des Starost wird nicht eingegangen.

2. Die Wölfe sind so gierig, dass sie Beute am Rand der Straße übersehen.
Unser Kommentar: Das ist auch nicht sehr moralisch: Denn es bedeutet, wenn wir uns still verhalten, dann trifft es die anderen, wie schön 😉

Außerdem passen diese beiden Trostbringer nicht zu der Beschreibung der Menschen, die von Heeren überrannt werden. Oder passt es doch: Wer sich am besten versteckt, kann am besten überleben?

Hier bleiben Fragen über Fragen – was eigentlich für gute Literatur spricht. Nur hier kommen die Fragen aus Fragwürdigkeiten der Erzählung – und das erscheint uns nach wie vor nicht ganz so schön.

 

Aber nun unser erster Zugriff auf die Geschichte:

Was zeigt die Geschichte?
Die Geschichte zeigt zunächst einmal die Situation im oder kurz nach dem Krieg, wenn Feinde in der Kriegsgefangenschaft aufeinandertreffen und sogar zusammenleben müssen. Man misstraut sich, freundet sich aber zugleich auch an und besteht schließlich sogar gemeinsam eine große Gefahr.
Außerdem wird deutlich, wie mit den ersten Zeichen einer solchen Gefahr umgegangen wird. Der Starost als Verantwortlicher für die Sicherheit der Menschen in seinem Dorf will sie nicht wahrhaben und kann ihr dann nur sehr unvollkommen, ja eigentlich gar nicht wirklich begegnen.
Im Zentrum steht aber das dem Leser seltsam vorkommende Verhalten der Wölfe. Offensichtlich hat die große Masse ihre Einstellung so verändert, dass sie die paar Menschen gar nicht wahrnehmen, sondern nur darauf aus sind, größere Ortschaften anzusteuern, um dort vielleicht über Haustiere herzufallen.
Der Erzähler selbst deutet das in einem kurzen Kommentar an: „Hunger trieb sie, Hunger machte sie blind für die Beute neben der Fährte“.
Die Geschichte macht aber auch deutlich, dass der Erzähler unbedingt eine große Lebensweisheit loswerden will:
„So zogen Heere in die Städte der Feinde ein, durch die Mauer des Schweigens, der Verachtung, des Hasses. Die Menschen verkrochen sich vor ihnen, löschten das Licht, hielten den Atem an, schlossen die Augen und glaubten, ihr Herz klopfte gegen die Wand, und die draußen könnten es hören, durch die Tür brechen und wahllos Schlüsse ins Zimmer feuern.“
Auffällig ist zunächst einmal, dass dies als Einschub sehr deplatziert wirkt: Während die Wölfe an den Menschen vorbeiziehen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie sich Gedanken machen über Feindschaft, Hass und Angst. Immerhin geht es um ihr Leben – und sie sollten sich nur um sich selbst kümmern, zum Beispiel ganz still stehen. Darauf geht der Erzähler aber gar nicht ein.

Schauen wir uns nun mal die seltsame Stelle etwas genauer an:

„So zogen Heere in die Städte der Feinde ein“
Um welche Feinde geht es? Sinn macht die Formulierung nur, wenn sie aus dem Kopf des Gefangenen kommt.

„durch die Mauer des Schweigens, der Verachtung, des Hasses.“
„Schweigen“ kann man ja noch verstehen – der Starost will nichts von der Gefahr hören. Aber wo gibt es „Verachtung“ oder „Hass“ in der Geschichte?

„Die Menschen verkrochen sich vor ihnen, löschten das Licht, hielten den Atem an, schlossen die Augen und glaubten, ihr Herz klopfte gegen die Wand, und die draußen könnten es hören, durch die Tür brechen und wahllos Schlüsse ins Zimmer feuern.“
Das ist sicher eine gute Beschreibung für eine mögliche Reaktion von Menschen auf eine plötzlich aufkommende Gefahr, gegen die man meint, nichts tun zu können. Aber man hat doch mehr den Eindruck, dass der Erzähler (oder gar der Verfasser) hier eher allgemeine menschliche Verhaltensweisen präsentiert, die mit der konkreten Geschichte aber wenig bis gar nichts zu tun haben. Bezeichnenderweise erzählt er nicht, dass die Menschen um den Starost sich bereits so verhalten.

Insgesamt also in diesem Bereich eine äußerst fragwürdige schriftstellerische Leistung.  Man kann höchstens annehmen, dass hier bewusst eine falsche Fährte gelegt wird. Denn in Wirklichkeit geht es doch um die menschliche Annäherung und Unterstützung zwischen ehemaligen Feinden. Schade nur, dass hier nur die Überwindung der eigenen Angst beim Starost und seinem Gefangenen als Leistung erzählenswert ist. Ansonsten haben sie einfach nur Glück.

Bezeichnend ist auch, dass der Starost am Ende kein bisschen Einsicht in die eigene Dummheit und Pflichtvergessenheit zeigt, sondern stattdessen eine allerdings sehr interessante, wenn auch fragwürdige Interpretation loslässt:

„Die Wölfe kommen zurück.“
Schön, damit ist der Titel schon mal im Text gesichert. Sehr klug ist die Bemerkung allerdings nicht. Als Leser haben wir das schon mitbekommen.

„Sie wittern den Frieden.“
Diese Bemerkung ist natürlich ein starkes Stück – nicht vom Starost, denn der beschreibt ja nur, was auf natürliche Weise passiert.
Es ist ein starkes Stück, was den Erzähler und eigentlich den Autor angeht, denn der lässt die Kurzgeschichte ja mit diesem Satz enden.
Denn es heißt doch wohl: Krieg ist etwas Gutes, denn er vertreibt die Wölfe.
Frieden dagegen ist etwas Schlechtes, denn er bringt die Raubtiere zurück.
Daran ist natürlich durchaus was Richtiges: Denn Krieg schweißt Menschen auch wie jede andere große Gefahr zusammen, während Frieden zum Teil auch eine Zeit ist, in der die Menschen stattdessen mehr gegeneinander arbeiten.
Nur leider hat das alles in der Geschichte keinen Platz.

 

Anmerkungen zum Schaubild:
Das Schaubild präsentiert in den drei Säulen oder Spalten drei unterschiedliche Betrachtungsweisen.

Links haben wir die Kernelemente der Geschichte, von einem recht friedlichen Zusammenleben von Einheimischen und Gefangenen über die menschliche Annäherung, die sich ergibt bis hin zur Fahrlässigkei des Ortsvorstehers und der sich daraus ergebenden fehlenden Vorsorge. Alles mündet dann in ein Glück im Unglück.
Ganz am Ende dann der Satz am Ende, der grundsätzlich erst mal richtig ist, dann aber viele Fragen aufwirft.

Die mittlere Spalte enthält die eingebaute Aussage oder Selbstinterpretation der Geschichte.
Da dringen Heere ins Land der Feinde, Mauern des Schweigens, der Verachtung und des Hasses sind vorhanden – und die Menschen verkriechen sich und haben Angst.

Die rechte Spalte listet dann die Fragen des Lesers auf, die letztlich deutlich machen, dass die mittlere Spalte direkt nichts zu tun hat mit der Spalte links.
– Wer sind die Feinde?
– Wer schweigt?
– Wer verachtet?
– Wer hasst?
– Wer verkriecht sich?

Und dann die entscheidende:
– Ist Krieg besser als Frieden?

So macht das Schaubild insgesamt deutlich, dass die Aussage der Geschichte ohne den Erzählerkommentar wenig bis gar nichts direkt mit ihm zu tun hat.
Das ist kein gutes Zeichen für schriftstellerisches Können – denn das soll ja gerade daraus hinauslaufen, dass die Erkenntnisse nicht vom Erzähler oder dem Autor „gesagt“ werden, sondern dass sie sich aus der Geschichte ergeben. Zumindest muss beides was erkennbar miteinander zu tun haben.

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