Christian Morgenstern, „An die Wolken“ (Mat4641)

Christian Morgenstern

An die Wolken

 

Und immer wieder,

wenn ich mich müde gesehen

an der Menschen Gesichtern,

so vielen Spiegeln

unendlicher Torheit,

hob ich das Aug

über die Häuser und Bäume

empor zu euch,

ihr ewigen Gedanken des Himmels.

  • Das Gedicht richtet sich an die Wolken, die am Ende der ersten Strophe als „Gedanken des Himmels“ angesehen werden. Sie stehen also offensichtlich mit einer höheren Macht in Verbindung.
  • Damit stehen sie im Kontrast zu dem, was das lyrische Ich „müde“ gemacht hat.
  • Negativ gesehen werden die Menschen, in deren Gesichtern das lyrische Ich nur die Spiegel „unendlicher Torheit“ sieht.
  • Es bleibt offen, was damit gemeint ist. Die Leser müssen sich selbst überlegen, was das lyrische Ich den Mitmenschen vorwerfen könnte.
  • Deutlich wird auf jeden Fall, dass die Wolken für etwas Größeres stehen als die menschliche Zivilisation.

 

Und eure Größe und Freiheit

erlöste mich immer wieder,

und ich dachte mit euch

über Länder und Meere hinweg

und hing mit euch

überm Abgrund der Unendlichkeit

und zerging zuletzt

wie Dunst,

wenn ich ohn Maßen

den Samen der Sterne

fliegen sah

über die Äcker

der unergründlichen Tiefen.

  • Die zweite Strophe macht dann deutlich, was das lyrische Ich an den Wolken positiver findet.
  • Es sind Größe und Freiheit und eine Position oberhalb des Abgrunds „der Unendlichkeit“.
  • Auch hier kann man überlegen, was damit gemeint sein könnte.
  • Im Schlussteil der Strophe wird deutlich, dass das lyrische Ich sich selbst wie einen Bestandteil der Natur fühlt.
  • Am Ende wird dafür noch mal ein sehr menschliches Bild verwendet, nämlich der Samen, der letztlich eine Ernte hervorbringt.
  • Das aber wiederum wird dann nicht mehr auf der Erde gesehen, sondern im Reich der Sterne.
  • Deutlich wird auf jeden Fall, dass die Unendlichkeit hier positiv gesehen wird, weil sie ohne Maß ist, ohne Grenze.
  • D.h., das lyrische Ich sieht in diesem Gedicht einen Gegensatz zwischen der begrenzten Welt der Menschen, die über das Problem der Grenzen hinaus auch noch von Dummheit gekennzeichnet ist.
  • Dieser Vorwurf wird nicht näher ausgeführt und wird deshalb unter den Lesern wohl nur für Gleichgesinnte akzeptabel sein.
  • Auf jeden Fall ist dieser Welt entgegengesetzt die Natur – und zwar in einem umfassenden Sinne. 
  • Inwieweit hier auch etwas Göttliches oder allgemein Transzendenz angesprochen wird, bleibt genauso offen wie das, was außer der Begrenztheit den Menschen auch noch vorgeworfen wird.
  • Ganz offensichtlich enthält dieses Gedicht ein romantisches Element der Sehnsucht nach unbegrenzter Zeit, Freiheit und Eingang in die höhere Welt der Natur.
  • Es könnte eine reizvolle Aufgabe sein, näher zu prüfen, inwieweit dieses Gedicht nicht nur romantische Züge enthält, sondern auch zumindest prinzipiell auch in die entsprechende Epoche passen würde, auch wenn es zeitlich dort nicht hineingehört.

 

  • Auf jeden Fall gehört das Gedicht zwar in die Zeit des Expressionismus und verbindet die dort weitervermietete Kritik an den Menschen mit einer nicht ganz so typischen Sehnsucht nach Selbstauflösung. Was fehlt, ist auf jeden Fall die Exzentrik, die Schroffheit vieler Gedichte des Expressionismus.
  • Eine reizvolle kreative Aufgabe könnte sein, dieses Gedicht und seine Tendenz in die heutige Zeit zu übertragen. Da gibt es sicherlich Menschen, die unzufrieden sind mit dem, was ihnen hier von Menschen geboten wird,  und im Vergleich dazu Sehnsucht entwickeln, nach der Größe des Kosmos.
  • Interessante Perspektiven könnten sich noch ergeben, wenn man dieses Gedicht mit einem Gedicht von Hermann Hesse vergleicht, das etwa zur gleichen Zeit entstanden ist.
  • https://lyrik.antikoerperchen.de/hermann-hesse-im-nebel-christian-morgenstern-an-die-wolken,textbearbeitung,471,amp.html 
  • Hermann Hesse, „Im Nebel“